Literatur und Recherche: Uri Orlev und Mirjam Pressler zu Gast im Jüdischen Museum München

Wie schreibt man ein Kinderbuch über den Holocaust? Die Frage nach der richtigen Methode, den Schrecken und das Grauen der Judenverfolgung nachfolgenden Generationen zu vermitteln, bleibt auch 60 Jahre später eine Streitfrage. Aber nicht für die Autoren, die am Donnerstag auf dem Podium im Jüdischen Museum München saßen. Im Rahmen des White-Ravens-Festivals erzählten die Erfolgsautoren Uri Orlev und Mirjam Pressler von der besonders lakonischen Erzählweise in ihren Bücher.

Von links nach rechts: Dr. Christina Raabe, Direktorin der Internationalen Jugendbibliothek, Bernhard Purin, Direktor des Jüdischen Museums München, Mirjam Pressler, Uri Orlev und Moderator Jochanan Shelliem.

Während immer mehr Filme mit vielen Details und brachialer Brutalität die Erinnerungsarbeit über die NS-Herrschaft ableisten möchten, hat der 81-Jährige jüdische Autor Uri Orlev seinen Weg der medialen Darstellung schon vor 40 Jahren gefunden. Demnach zeichnet ein gutes Holocaust-Buch mit viel Sensibilität die Nischen der Normalität nach, die sich selbst in den dunkelsten Stunden der Menschheit zu finden scheinen. „Ich beschreibe in meinen Büchern zum Beispiel womit die Kinder im Krieg gespielt haben“, erzählt Orlev auf der Lesung mit dem Titel „Wenn die Erinnerung kommt, halt sie fest“.

Wie kann man Kindern die Ereignisse des Holocaust vermittelt, ohne sie zu traumatisieren? Oder ohne sie emotional abzustumpfen oder auch auf der anderen Seite Gefahr zu laufen, Grausamkeiten zu verharmlosen? Solche Fragen stellte Moderator Jochanan Shelliem den beiden großen Autoren der Kinderliteratur leider nicht.

So entwickelte der Abend seine große Wirkung vor allem durch die außerordentliche Präsenz der beiden Autoren. Rund 100 Zuhörer verharrten fast zwei Stunden im Foyer des Museum und lauschten gefesselt den auf Hebräisch vorgetragenen Schilderungen Uri Orlevs, der von seiner Übersetzerin Pressler dieses Mal in Echtzeit übersetzt wurde.

In Echtzeit übermittelt wurden auch die Zitate und Leseempfehlungen. Auf dem Twitter-Kanal des Jüdischen Museums konnten die Follower des White-Raven-Hashtags #wrf12 der Veranstaltung folgen. Ein Social-Media-Experiment, das bei der Netzgemeinde gut ankam und vermutlich künftig öfter zum Einsatz kommen wird.

Gänsehaut-Momente, gab es, so konnte man es auch bei Followern auf twitter lesen, auch im Netz, wenn die Erlebnisse aus Büchern wie „Lauf, Junge, lauf“ und „Ein Königreich für Eljuscha“ geschildert wurden. Mirjam Pressler trug mit ruhiger, klarer Stimme immer wieder eindrucksvolle Passagen vor, die – so musste das Publikum erfahren – jeweils auf wahren Begebenheiten beruhten. Leider.

Es ist wohl so, wirklich ausdenken könnte sich wohl keiner so perfide Geschichten, wie sie das wahre Leben dieser jüdischen Generation schrieb. Wenn sich ein Junge auf der Flucht im Wald versteckt und dort plötzlich seinem verloren geglaubten Vater in die Augen blickt, der sich dort im Unterholz vor den Deutschen versteckt. Und wenn das Wiedersehen dann im nächsten Moment zugleich zum Abschied wird, weil der Vater seinem Sohn die wichtigsten Überlebensregeln diktiert („Bade nie nackt mit anderen Kindern!“, „Lerne das Vaterunser beten!“) und ihm einen polnischen Vornamen gibt, bevor er ins Feuer der deutschen Soldaten rennt, um seinem Sohn (“Lauf, Junge, lauf”) die Flucht zu ermöglichen. Diese Szene, so berichtet Uri Orlev, sei ihm von einem Mann erzählt worden, der „rote Haare, einen Zopf und nur einen Arm hatte“. Der Mann habe ihm die Geschichte erzählt, damit seine Kinder erfahren, was er damals erlebt habe, erläuterte Orlev.

Auch Mirjam Pressler, eine der erfolgreichsten deutschen Kinderbuchautorinnen, hat keinen Bedarf, die Geschichten für ihre Romane zu erfinden. Die Übersetzerin der kritischen Werkausgabe der „Tagebücher der Anne Frank“, hat mit ihrem jüngsten Werk „Ein Buch für Hanna“ (2011) ein literarisches Denkmal für eine ihrer engsten Freundinnen in die Bücherregale gestellt. „Ich hatte ein schlechtes Gewissen als Hanna starb“, sagte Pressler. Pressler, die erst mit 40 Jahren zu schreiben begann, habe eine Verpflichtung verspürt, die Geschichte der Frau aufzuschreiben, deren Leben vom 14. Lebensjahr bis ins Alter von Mitte Zwanzig eine scheinbar ewig währende Odyssee und ein andauernder Kampf ums Überleben war. Dass sie ihrer Freundin zeitlebens zu wenige Fragen gestellt gehabt habe, stellt Pressler erst fest, als sie Hanna nicht mehr habe fragen können. So berichtet Pressler, wie sie die Wissenslücken über Hannas Zeit in Dänemark und in Theresienstadt mühsam mir Recherchereisen aufzufüllen versucht.

Ein ähnliches Vorgehen legte Mirjam Pressler, selber Jahrgang 1940, die als uneheliches Kind einer jüdischen Mutter bei Pflegeeltern aufwuchs, auch bei ihrem Anne-Frank-Buch zu Grunde:

Nach dem Gespräch, das leider keinen wirklichen Raum für Fragen aus dem Publikum ließ, sagte ein Besucher, einen Satz, den wohl auch viele von den Menschen im Kopf hatten, die sich geduldig für eine Unterschrift auf dem Buch anstellten. „Ich habe eigentlich schon genug Zeitzeugenberichte in meinem Leben gehört – aber der heutige Abend hat mich sehr tief berührt.“

Vielleicht lag es an der Art, wie die Geschichten von Orlev und Pressler erzählt wurden. Geschichten, in denen die Kinder trotz allem Kinder bleiben dürfen.

Bei so berühmten Gästen füllten sich die Plätze im Foyer trotz der lauen Sommerabends schnell.

Kaum ein Zuhörer schien gehen zu wollen, ohne ein Buch und eine Unterschrift mitnehmen zu wollen.

Auch Hildegard Hamm-Brücher lies sich die Lesung nicht entgehen.

Ein reich gedeckter Büchertisch. Beide Autoren begeistern mit ihren neuen Werken die Feuilletons.

Mirjam Pressler nahm sich Zeit für Gespräche mit ihren Lesern.

Text und Fotos: Marco Eisenack