Zwölf Monate – Zwölf Namen: Andrei Spitzer

Andrei Spitzer reist als Trainer der Fechter zu den Olympischen Spielen 1972 in München. Damit geht für den jungen Vater ein Traum in Erfüllung. Doch er und zehn seiner Teamkollegen werden von palästinensischen Terroristen als Geisel genommen und ermordet. Beim fehlgeschlagenen Befreiungsversuch kommt auch ein bayerischer Polizist ums Leben. 50 Jahre danach gedenken wir unter dem Titel „Zwölf Monate – Zwölf Namen“ jeden Monat eines der Opfer. Das Jüdische Museum München und die Initiative Schulterschluss widmen sich im Oktober mit einem Gestaltungswettbewerb, einem Jugendaustausch, einem Fecht-Gedenkturnier und Schulklassenprojekten der Erinnerung an Andrei Spitzer.
Schwarz-Weiß-Portrait: Andrei Spitzer trägt ein dunkles Shirt, Brille und eine Kette mit Anhänger. Er lächelt und schaut links an der Kamera vorbei.
Andrei Spitzer, Biranit, Israel, 1972 © privat

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Andrei Spitzer wird am 04. Juli 1945 in Timisoara (Rumänien) als Sohn der Schoa-Überlebenden Eleonora, geb. Hirshel, und Tiberiu Spitzer geboren. Seine fünf Jahre ältere Schwester Judith rudert, er beginnt im Alter von neun Jahren zu fechten. Bereits im Alter von elf Jahren verliert er seinen Vater an Krebs und seine Mutter muss schwer arbeiten, um ihre Kinder zu versorgen. Er macht eine Ausbildung im Bereich Elektrik und kann als Fechter beachtliche Turniererfolge für sich verbuchen. Dennoch sieht seine Mutter in Rumänien keine Zukunft für ihn. Daher wandern Andrei und Eleonora Spitzer 1964 nach Israel aus, Judith ist inzwischen verheiratet und bleibt in Rumänien.

Es ist nicht einfach, in der neuen Heimat, die sich noch im Aufbau befindet, Fuß zu fassen. Andrei Spitzer und seine Mutter müssen erst die hebräische Sprache erlernen. Er tritt bald nach der Ankunft seinen Pflichtwehrdienst an und lernt dabei nicht nur schnell Hebräisch, sondern trainiert auch weiterhin Fechten bei Maccabi Ramat Gan. 1968 wird er vom israelischen Fechtverband in die Niederlande entsandt, um an einer Sportakademie zum Trainer ausgebildet zu werden und nach seiner Rückkehr als Nationaltrainer arbeiten zu können. Hier lernt er schnell die niederländische Sprache und erteilt neben dem Studium Fechtunterricht.

Junge Erwachsene beim Fechttraining: links steht Andrei Spitzer im weißen Trainingsanzug und mit Florett. Rechts stehen in einer Reihe acht Männer und Frauen in Trainingskleidung, die seine Haltung mit dem Florett nachmachen. Im Hintergrund ein gefliester Saal mit Tafel und geöffneter Tür.
Andrei Spitzer (l.) erteilt Fechtunterricht unter seinen Schüler_innen befindet sich Ankie Spitzer (3. v. r.) © privat

Eine seiner Schüler_innen ist Ankie, die einen großen Teil ihres Lebens in den verschiedensten Ländern gelebt hat und Andrei auffällt, als sie ihre Erschöpfung im Training auf Hebräisch ausdrückt. Er fasziniert sie, indem er sie in den gemeinsamen Gesprächen immer wieder durch seine Perspektive und sein Wissen überrascht, wie es auf der ganzen Welt noch niemand getan hatte, so Ankie später. Weiter beschreibt sie ihn als ruhigen, friedfertigen Menschen, der ihr beigebracht habe, keine vorschnellen Urteile über andere zu fällen. Wenige Monate vor seiner geplanten Rückkehr werden die beiden ein Paar und beschließen gemeinsam nach Israel zu ziehen. Andrei Spitzer soll im Norden des Landes in Biranit ein neues Sportzentrum leiten. In der abgelegenen Gegend an der libanesischen Grenze lebt das Paar glücklich, heiratet erst standesamtlich in den Niederlanden und, nachdem Ankie zum Judentum konvertiert war, auch in Israel.

Das Brautpaar kommt aus dem Standesamt und wird von neun Fechtschüler_innen empfangen, die mit erhobenem Florett Spalier stehen. Ankie Spitzer hält einen Blumenstrauß, sie trägt ein helles Kleid, Sonnenbrille und Sonnenhut, Andrei Spitzer einen dunklen Anzug. Beide lächeln.
Die Standesamtliche Hochzeit von Ankie und Andrei Spitzer in Den Haag, Niederlande, 17. April 1971 © privat

Zu Beginn des Jahres 1972 wird das Sportzentrum in das Wingate Sportleistungszentrum in Netanja eingegliedert. Hier arbeitet Andrei Spitzer als leitender Fechttrainer, engagiert sich für benachteiligte Jugendliche und sammelt Fecht-Ausrüstung als Spenden für jene, die sich das teure Material nicht leisten können. Mit der Entsendung zu den Olympischen Sommerspielen 1972 in München als Trainer der Fechter Yehuda Weinstain und Dan Alon geht für ihn ein Lebenstraum in Erfüllung. Noch glücklicher macht ihn die Geburt seiner Tochter Anouk zwei Monate vor den Spielen.

Andrei Spitzer hält sein schlafendes Baby im Arm und lächelt es an.
Andrei und Anouk Spitzer 1972, Israel © privat

Ankie und Andrei Spitzer reisen mit der Israelischen Olympischen Delegation nach München und beziehen ein Zimmer in einer Pension, um zusammen sein zu können. Beide gehen dennoch bei Tag und Nacht im Olympischen Dorf ein und aus, besuchen die Wettkämpfe und genießen die internationale Atmosphäre. Dieses Überwinden von Grenzen und politischen Konflikten, die unter den internationalen Sportdelegationen herrschte, habe Andrei Spitzer laut seiner Frau große Freude bereitet.

Nach den Wettbewerben im Fechten fährt das Paar in die Niederlande, um ihre kranke Tochter zu besuchen, die in der Obhut der Großeltern ist. Andrei Spitzer würde gerne wie seine Frau länger bleiben, aber er hat nur zwei Tage frei. Mit Mühe erreicht er den Zug nach München und kommt kurz nach Mitternacht am nächsten Tag, dem 5. September 1972, ins Olympische Dorf zurück. Nur wenige Stunden später wird das Apartment von Terroristen überfallen. Am Morgen erfährt seine Familie aus den Medien von der Geiselnahme, 24 Stunden später von seinem Tod. Seine Witwe Ankie reist daraufhin nach München und geht, entgegen allen Warnungen, in das Apartment, in dem ihr Mann und seine Kollegen als Geiseln gefangen gehalten wurden. Sie nimmt Waldi, den Stoffdackel, den ihr ermordeter Mann für Tochter Anouk gekauft hat, mit. Er ist blutbefleckt.

Andrei Spitzer wird zwei Tage später am Friedhof Kiryat Shaul in Tel Aviv beigesetzt, nachdem seine Mutter Eleonore aus Rumänien zurückgekehrt war. Die Hinterbliebenen des Olympia-Attentates sind sich einig, sie wollen ihre Kinder ohne Hass erziehen.

Andrei would not have allowed anything violent … his ideal to make something positive out of something negative.

Witwe Ankie Spitzer

Heute ist Andrei Spitzers Enkel begeisterter Fechter.

Text: Angela Libal; Recherche: Piritta Kleiner, Kuratorin des Erinnerungsortes Olympia-Attentat München 1972, Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus

ZWÖLF MONATE – ZWÖLF NAMEN
50 Jahre Olympia-Attentat München

50 Jahre nach den Olympischen Spielen in München wird 2022 ganzjährig an das Olympia-Attentat am 5.-6. September 1972 erinnert. Jeden Monat steht dabei ein Opfer im Mittelpunkt des Gedenkens. Es werden verschiedene Interventionen im öffentlichen Raum stattfinden, von Installationen, die den ganzen Monat über zu sehen sein werden, bis hin zu eintägigen Aktionen.

Konzipiert und koordiniert wird das Erinnerungsprojekt vom Jüdischen Museum München und vom NS-Dokumentationszentrum München in Zusammenarbeit mit dem Generalkonsulat des Staates Israel. Die Umsetzung erfolgt mit Kooperationspartnern wie dem Historischen Verein Fürstenfeldbruck e.V., dem Deutschen Theater, der Polizeihochschule Fürstenfeldbruck und dem Polizeipräsidium München sowie weiteren Kultur- und Bildungseinrichtungen und anderen Interessierten.

Oktober

Plakat mit Chatverlauf in Olympia-Farben an einer Litfaßsäule
Plakataktion, ©Daniel Schvarcz

Im Oktober widmet die Initiative Schulterschluss von Christian Springer Andrei Spitzer einen Jugendaustausch, ein Gedenkturnier am 23. Oktober 2022 im Sportzentrum Häberlstraße und einen Gestaltungswettbewerb an der Berufsschule für Farbe und Gestaltung. Zwei ausgewählte Motive des Wettbewerbes sind im Oktober auf Werbeflächen im Stadtgebiet und an städtischen Fahnenmasten zu sehen. Sie sollen die Erinnerung wachhalten, die Lehren aus den Ereignissen von 1972 in der Münchner Zivilbevölkerung verankern und anregen sich gegen Gewalt einzusetzen.

Im Rahmen der Vermittlungsarbeit des Jüdischen Museums München haben vier Gruppen Jugendlicher intensiv und sehr kreativ verschiedene Erinnerungsformen an Andrei Spitzer entwickelt. Diese Projekte werden während der „Langen Nacht der Münchner Museen“ präsentiert und sind danach noch bis zum 30. Oktober 2022 im Jüdischen Museum München zu sehen. Zu den Projekten.

Installationsansicht, im Raum schweben Glasplatten mit Fotos von Andrei Spitzer und jungen Fechterinnen
Schüler_innen-Installation zum Gedenken an Andrei Spitzer, © Daniel Schvarcz