Die Dritte Generation: Münchner Perspektiven

Die Ausstellung „Die Dritte Generation. Der Holocaust im familiären Gedächtnis“ ist in Zusammenarbeit mit dem Jüdischen Museum Wien entstanden. Für die Präsentation in München wurde einiges verändert. Wir haben mit der Münchner Kuratorin Ulrike Heikaus darüber gesprochen, was neu ist.
Ausstellungsansicht: Es sind verschiedene Kunstwerke im Raum zu sehen: Eine Zeichnung, eine Skulptur, eine achtteilige Fotoserie und eine bunte Tapete.
Ausstellungsansicht „Die Dritte Generation. Der Holocaust im familiären Gedächtnis“ im Jüdischen Museum München, Foto: Eva Jünger

LT: Die Ausstellung, die von Sabine Apostolo und Gabriele Kohlbauer-Fritz für das Jüdische Museum Wien konzipiert wurde, war dort von September 2024 bis März 2025 zu sehen. Jetzt hat sie ihre zweite Station in München. Es war von Anfang an geplant, dass die Ausstellung nicht einfach übernommen wird, sondern dass sie für München adaptiert und erweitert wird. Diese Aufgabe hast du gemeinsam mit Yuval Schneider übernommen. Wie war das für dich?

UH: Die Übernahme einer Ausstellung aus einem anderen Museum bringt sehr vieles mit sich. Auf den ersten Blick erscheint es eine leichtere Aufgabe als eine eigene Produktion. Tatsächlich bedeutet die Übersetzung und Anpassung an das eigene Haus viel Arbeit und Aufwand, wenn auch natürlich mit einem deutlich anderen inhaltlichen Startpunkt als bei Eigenproduktionen. Im Fall dieser Übernahme aus dem Jüdischen Museum Wien war diese Arbeit für mich in vielerlei Hinsicht ein Geschenk und mit sehr viel Positivem verbunden. Es war von Beginn an bereichernd, das Konzept der Kolleginnen aus Wien noch einmal aus anderen Blickwinkeln zu betrachten und zu überlegen, wie und was kann und soll in München in der zweiten Ausstellungsstation noch einmal anders erzählt werden?

LT: Dabei gab es bestimmt auch erstmal ganz praktische Überlegungen. Die Räume in dem historischen Gebäude des Jüdischen Museums Wien in der Dorotheergasse sind ja ganz anders geschnitten als die beiden offenen Ausstellungsebenen in München.

UH: Das stimmt. In Wien ist der Ausstellungsparcour durch die verschieden großen Räume viel verschachtelter, auch ist es kein „white cube“, sondern die Räume haben unterschiedlich dominante architektonische Eigenheiten. In München haben wir zwei gleich große, neutrale Ausstellungsebenen und mehr Platz. Da die Gestaltung wiederum vom Wiener Büro Koerdtutech, von Irina Koerdt und Sanja Utech, in sehr angenehmer Zusammenarbeit realisiert wurde, war es nicht nur auf der Inhaltsebene eine Übersetzung, sondern auch gestalterisch, was, wie ich finde, für die Ausstellung ein Glücksfall ist. In Wien folgte die Ausstellung gestalterisch stärker einem Narrativ, es ging ums Umhüllen, um Schichten und Erinnerungsebenen, es wurde mit Textilen und verschiedenen fragmentierten Textebenen, gearbeitet. All das ist in München nun aufgelöst worden, es ist eine ruhigere und zurückgenommener Präsentation der Arbeiten. Mir gefällt dieser zweifache inhaltliche Zugang über die Gestaltung sehr gut. Durch den vorhandenen Platz in München konnten wir einigen Arbeiten tatsächlich noch mehr Raum und dadurch auch Aura geben, das tut der Kunst immer gut.

LT: In München sind auch einige künstlerische Arbeiten neu dazugekommen. Welche sind das und wie hast du sie ausgewählt?

UH: Die Vielzahl an möglichen künstlerischen Positionen zum Thema dieser Ausstellung ist enorm. Die Entscheidungen, was in die Ausstellung kommt, und welche Stimmen gehört werden, sind vielfältig, auch der Zufall spielt dabei eine nicht zu unterschätzende Rolle. Nachdem die Ausstellung viele Wiener Geschichten erzählt, war es mir wichtig, sowohl bei den gezeigten Objekten als auch bei den künstlerischen Arbeiten Münchner Perspektiven zu ergänzen. So sind die Arbeiten der Münchner Künstler*innen Ilana Lewitan, Georg Soanca-Pollak und Lydia Bergida dazugekommen und wir haben uns noch mal stärker an Objekte aus unserer eigenen Sammlung hingewendet. Neu ist auch die Arbeit von Chana Freundlich, deren audiovisuelle Installation „Deutsches Judentum ist eine Packung Matzemehl“ in der zweiten Ausstellungsebene zu sehen ist. Sie zeigt, mit einem für mich noch nicht so häufig wahrgenommenen Blick, wie es ist, als nachfolgende Generation, in ihrem Fall als Angehörige der Dritten Generation, mit Überlebenden zu leben. Wie sehr dieses Leben – sie nennt es selbst „Überleben mit Überlebenden“ – geprägt ist von den psychosozialen Spätfolgen der Schoa.

Chana Freundlich: „Deutsches Judentum ist eine Packung Matzemehl“, Installation im Jüdischen Museum München, Foto: Eva Jünger

LT: Die Ausstellung beschäftigt sich, wie der Titel schon andeutet, nicht ausschließlich mit jüdischen Perspektiven. Schon in Wien war etwa das Gemälde „Die Klinik“ von Hannah Bischof zu sehen, das die Aufmerksamkeit auf die Opfer der Euthanasie richtet. Sehr eindrücklich sind auch die Arbeiten von Alfred Ullrich, die sich mit der Verfolgung der Rom*nja und Sinti*zze auseinandersetzen. Deren Perspektive wird in München mit einer weiteren Arbeit beleuchtet. Welche ist das?

UH: Wir haben in München die fotografische Arbeit „Place with no name“ von Valérie Leray ergänzt. Ausgehend von ihrer eigenen Familiengeschichte und historischen Dokumenten folgt Leray den Spuren der Internierungslager für Rom*nja und Sinti*zze während des Zweiten Weltkriegs im heutigen Frankreich, Tschechien und anderen europäischen Ländern. Es sind fotografierte (Un-)Orte, kaum oder gar keine Spuren weisen noch auf ihre einstige Geschichte hin. Das dort Verfolgungsorte für Sinti*zze und Rom*nja während des Holocaust existierten, erschließt sich dem heutigen Betrachter*innen nicht. So werden die Fotografien selbst zu Spuren, was ich als Ansatz der Arbeit sehr spannend finde. Es ist nichts mehr zu sehen, die Fotos zeigen das und sind durch ihre ästhetische Präsenz Beleg für das Fehlen einer angemessenen kritischen Auseinandersetzung mit der Geschichte der Verfolgung und Ermordung der Rom*nja und Sinti*zze innerhalb der europäischen Gesellschaften.

LT: Lerays Fotoserie macht anschaulich, dass in Deutschland auch 80 Jahre nach Ende des Holocaust noch vieles nicht aufgearbeitet ist und nicht alle Perspektiven gehört werden. In München und anderen Städten wird dieses Jahr das Jubiläum „80 Jahre Kriegsende“ begangen. Wie verhält sich die Ausstellung dazu?

UH: 2025, im Jubiläumsjahr, 80 Jahre nach Kriegsende und dem Ende des Holocaust, lässt sich durch den zeitlichen Abstand zum Geschehen und Erleben, die Tendenz der Vereinheitlichung beobachten, dass so gut wie alle von damals Opfer, Täter*innen wie Mitläufer*innen, schwierige Erfahrungen in einer schwierigen Zeit gemacht haben und viele danach über das Erlebte geschwiegen haben, weil es menschlich sei und Ausdruck der Verdrängung. Dieser Vereinheitlichung stellt sich die Ausstellung entschieden entgegen. Denn es gibt verschiedene Arten des Schweigens – es gibt ein Ver-Schweigen und es gibt das vermeintliche Schweigen, das in Wirklichkeit ein Medium darstellt und die Erfahrungswelt der Nachkomm*innen von Überlebenden des Holocausts betrifft. Es ist ein lauthalses Schweigen, darin enthalten sind die nonverbalen Botschaften über das stets Präsente. Überlebende des Holocaust und der Schoa müssen mit etwas leben, womit es eigentlich nicht möglich ist zu leben. Um Familien zu gründen und weiterzuleben, müssen die Erfahrungen fragmentiert und aufgespalten verarbeitet werden, entsprechend tradieren sie ihre Traumata und geben sie dadurch ungewollt und indirekt an die nachfolgenden Generationen weiter.

Gitarre, gebaut 1943 im Getto Theresienstadt von dem Prager Architekten Hanus Smetana, Foto: Eva Jünger

LT: Ich möchte noch auf die Ebene der Objekte in der Ausstellung zu sprechen kommen. Sie sind für viele Nachkomm*innen eine greifbare Verbindung zu ihrer Familiengeschichte und mit großer Bedeutung aufgeladen. Welche Funktion haben sie in der Ausstellung?

UH: Aus Sicht eines Jüdischen Museums, dass auch aufs Sammeln und Bewahren ausgerichtet ist, ist es erheblich, wie viel Objekte uns erzählen, wenn wir Ihnen dafür Raum geben. Alltägliche Gegenstände, wie ein Silberlöffel, eine Spardose, eine Gitarre und handgeschriebene Briefe, alles Dinge, die, sobald sie in einem Museum landen, ihren ursprünglichen Sitz im Leben und ihre einstige Verwendung verloren haben; sie erzählen über ihre damaligen Besitzer*innen, über ihr Entstehen und ihre Überlieferung. Daher haben wir uns entschieden, das Thema „Restitution und die Biografie der Objekte“ in dieser Ausstellung noch einmal stärker ins Zentrum zu rücken. Über ihre schiere Präsenz hinaus geben die Objekte in der Ausstellung Zeugnis darüber ab, wem sie einst gehörten, wie sie ihre erweiterte Ebene der Zeitzeugenschaft erhielten und weshalb sie heute wie Stellvertreter*innen über das Erinnern an die Schoa und den Holocaust Auskunft geben können und Teil einer imaginären Familienaufstellung sind. So gesehen weisen die Objekte schon heute auf die Zukunft des Erinnerns hin, denn nach dem immer häufiger erwähnten „Ende der Zeitzeug*innenschaft“ werden es die Objekte sein, die zu Erinnerungsträgern des Holocaust werden. Dabei spielt auch der Raum, den die Öffentlichkeit diesen Objekten zuweist, eine entscheiden Rolle. Ich denke, die Zukunft des Erinnerns liegt auch in den Museen.

LT: Die Ausstellung endet mit genau der Frage: Wie erinnern wir uns in Zukunft? Kannst du etwas zu dem Gedicht von Esther Dischereit sagen und warum du es ans Ende der Ausstellung gesetzt hast?

UH: Wir haben versucht in München, zu Beginn der Ausstellung, aber auch am Ende des Parcours ein Bild, eine Art Metapher den Besucher*innen mit auf den Weg zu geben. Am Anfang der Ausstellung war es mit der Zeichnung von Mirta Kupferminc die erlebte Wurzellosigkeit vieler Überlebender und ihrer Nachfahr*innen nach der Schoa. Die Suche nach einem Ort zum Leben, trotz der vielen inneren und äußerlich erfahrenen Verluste und Traumata. Am Ende ist es die Frage nach der Zukunft des Erinnerns, die nur unbeantwortet bleiben kann, aber doch sphärisch und wortgewandt in einem Gedicht von Esther Dischereit aufgegriffen wird. „Glauben Sie wir nehmen Auschwitz mit ins nächste Jahrtausend?“ bleibt am Ende der Ausstellung als Frage zurück und begleitet die Besucher*innen beim Hinausgehen. Dischereit berührt mit diesem Text den Grenzbereich des Sprachlichen, sie nähert sich durch Sprache dem Raum jenseits der Sprache an und zeigt, auch durch das Fragmentierte ihres Textes, wie sehr das bruchstückhafte Erinnern in den Familien von Überlebenden Teil des Jetzt und des Zukünftigen sein wird.

Die Ausstellung „Die Dritte Generation. Der Holocaust im familiären Gedächtnis“ ist bis zum 1. März 2026 im Jüdischen Museum München zu sehen. Mehr dazu.