Im Judentum gilt Fisch nicht als Fleisch, sondern als ein neutrales Produkt (parve), das man theoretisch sowohl mit Milch-, als auch mit Fleischwaren kombinieren darf. Nicht alle Fische sind aber koscher. Nur die sind erlaubt, die Flossen und Schuppen haben. Zum Beispiel bleiben Welse, Störe (und dadurch auch Kaviar) sowie die Schalentiere für den Verzehr verboten, weil sie entweder keine Schuppen oder Flossen haben. Dagegen sind Lachs, Tunfisch und Karpfen erlaubt. Es gibt aber eine Fischart, die in der aschkenasischen Küche eine besondere Rolle einnimmt, nämlich der Hering.
Der Hering gilt mit Recht als der kulinarische Eckstein des europäischen Judentums. Von Odessa, mit ihrer berühmten Heringsvorspeise Vorschmack, bis Amsterdam und Hamburg mit ihren geräucherten Pikling (abgeleitet vom niederdeutschen bückinc) wurden die Heringe mit viel Vorliebe und Genuss von Jüdinnen und Juden gegessen. Auch im „Kochbuch für die einfache und feine jüdischen Küche“ von Marie Elsasser (1905) wird dem Hering viel mehr Platz als allen anderen Fischarten eingeräumt. Aber warum ist das so?
Der Hering gehört zu den ersten Fischsorten, die industriell gefangen wurden. Bereits im Mittelalter waren Heringe als eiweißreiches Nahrungsmittel sehr begehrt, zusätzlich hatten sie durch Einlegen in Salz oder Salzlake den Vorteil, gut transportiert und gelagert werden zu können. Die Industrialisierung, neue Konservierungsmethoden und die Entwicklung der Eisenbahnnetze im 19. Jahrhundert erleichterten die Lieferung dieser Fische von der Nord- und Ostseeküste ins Binnenland. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts war der Hering überall im Europa zugänglich. Im Gegenteil zum Fleisch, das komplexe Zubereitungsprozesse benötigt um koscher zu werden (z. B. Verbot von Blutverzehr im Judentum), ist der Hering durch seinen natürlichen Eigenschaften (Flosse und Schuppen) per se ein koscherer Fisch. Während das koschere Fleisch in der Regel nur bei einem koscheren Metzger zu kaufen ist, können die Jüdinnen und Juden Europas ihre Heringe überall und bei jedem Verkäufer kaufen, was selbstverständlich, zusammen mit der Verbreitung des Fisches, für sein Beliebtheit bei jüdischen Familien sorgte.
Nicht zu vergessen ist, dass die Familien im 19. Jahrhundert groß und die Heringe billig waren. Also man aß Heringe unter anderem auch aus ökonomischen Gründen. So konnte man sogar nur mit einem einzigen Hering die ganze Familie satt bekommen. Dies erklärt eine besondere Verbreitung unterschiedlicher Herings-Salate und Pasteten. Das „Kochbuch für die einfache und feine jüdische Küche“ von Marie Elsasser (1905) beinhaltet ein Salatrezept, in dem der Hering mit Äpfel und Zwiebeln kombiniert wird. Diese Kombination scheint ungewöhnlich, ergibt jedoch einen exquisiten und erfrischenden Geschmack, original aus dem 19. Jahrhundert.
Rezept 529: Apfelsalat:
10-12 Äpfel werden geschält, nebst 1 großen Zwiebel und 1 entgräteten, abgezogenen Hering in fingernagelgroße Würfel geschnitten, mit Salz, Zucker, Essig, Öl und Zitronensaft angemacht und nach 1 Stunde serviert; zu Fleischessen bleibt in streng orthodoxen Küchen der Hering weg und wird durch 1 größere Zwiebel ersetzt.