Am 24. November 1864 veröffentlichte Scholem J. Abramowitsch (1835 –1917) in Odessa seine erste jiddische Erzählung in der jiddischsprachigen Beilage Kol mewaser der hebräischen Zeitung Hamelitz. Heute gilt dieses Datum als Geburtstag der modernen jiddischen Literatur. Jiddisch war die Alltagssprache der Mehrheit der osteuropäischen Jüdinnen und Juden, als Literatursprache hatte es sich bis dahin noch nicht etabliert. Auch Abramowitsch war als Autor zunächst mit hebräischen Texten in Erscheinung getreten. Seine erste jiddische Erzählung veröffentlichte er unter dem Namen Mendele Moicher Sforim, Mendele der Buchhändler. Unter diesem Heteronym schuf er fortan einige der bekanntesten jiddischen Erzählungen, darunter 1878 „Die Reisen Benjamins des Dritten“. Susanne Klingensteins Neuübersetzung nennt auf der Titelseite erstmals Scholem J. Abramowitsch als Autor.
Abramowitsch wurde zum Wegbereiter der jiddischsprachigen Moderne, sein fiktiver Wanderbuchhändler Mendele stellt die perfekte Verbindung zwischen dem Literaten und seinen Lesern dar: „Mendele wurde sein Verbindungsmann zum ‚Volk‘. Ein Buchhändler kam überall herum, hatte Umgang mit Kunden, deren Bedürfnisse er bediente, und war doch der geistigen Welt verbunden, da er die Bücher kennen musste, die er verkaufte.“ (Klingenstein 2019: 210) Die Geschichten, die Abramowitsch Mendele erzählen lässt, spielen meist in fiktiven Schtetln wie Tunejadewke (Stadt der Müßiggänger), verweisen jedoch auf das gesellschaftliche und politische Umfeld Abramowitschs. Ohne Susanne Klingensteins sorgfältige Kommentierung würden heutigen Lesern die meisten der Anspielungen und der besondere Sarkasmus des belesenen Erzählers entgehen.
Nicht nur Mendele wird von Abramowitsch als leidenschaftlicher Leser charakterisiert, sondern auch Benjamin, der Protagonist der Erzählung „Die Reisen Benjamins des Dritten“. Zusammen mit seinem treuherzigen Begleiter Senderl verlässt er Tunejadewke, um nach Jerusalem zu reisen. Wie Don Quijote bezieht Benjamin sein Wissen über die Welt aus alten Reisebeschreibungen. Anstatt jedoch „Lindwürmern“, „Roten Juden“ und anderen sagenhaften Gestalten zu begegnen, müssen sich Benjamin und sein Begleiter ganz realen Problemen stellen. Ihre Reise endet frühzeitig als sie Häschern in die Hände fallen und zum russischen Militär verschleppt werden, einer Praktik, die ab der Einführung der Zwangsrekrutierung vonMänner jüdischer Herkunft durch Nikolai I.1827 nicht selten vorkam. Benjamins Versuch, sich aus dem Militär zu befreien und seine Reise fortzusetzen, liest Susanne Klingenstein auch als Akt der jüdischen Selbstbehauptung.
In ihrem Nachwort stellt sie zunächst den Autor und dessen Werk vor; eine umfassende Studie dazu hat sie bereits 2014 herausgegeben. In einem zweiten Teil folgt eine präzise Lektüre, die interessante Einblicke in die Motivik, den Aufbau und die Erzählposition des Textes gewährt. Klingenstein setzt „Die Reisen Benjamins des Dritten“ in den Kontext anderer moderner europäischer Klassiker, verliert jedoch nicht den spezifischen jüdischen Kanon aus den Augen, der die Grundlage von Abramowitschs Werk bildet. Dieser wird in ihrer Übersetzung dadurch sichtbar gemacht, dass hebräische Zitate im Text transliteriert und im Anhang umfassend kommentiert werden. Wer Abramowitschs Texte kennt, wird sich freuen, dass dessen Intertextualität und Vielsprachigkeit in der Übersetzung erfahrbar bleiben. Klingenstein hält sich an das zeitgenössische Vokabular und überzeugt durch einen klaren Satzbau.
Ihre Übersetzung lädt dazu ein, den „Großvater der jiddischen Literatur“ neu zu entdecken. Am 26.11.2019 wird sie „Die Reisen Benjamins des Dritten“ im Jüdischen Museum München vorstellen. Details zur Veranstaltung finden Sie hier.