Zwölf Monate – Zwölf Namen: Yossef Gutfreund

1972 wird der israelische Ringer Yossef Kurt Gutfreund gemeinsam mit zehn weiteren Mitgliedern der israelischen Delegation bei den Olympischen Spielen in München von einem palästinensischen Terrorkommando überfallen. Elf Sportler und ein bayerischer Polizist sterben. 50 Jahre danach gedenken wir unter dem Titel „Zwölf Monate – Zwölf Namen“, jeden Monat einem Opfer. Im April widmen wir Yossef Gutfreund eine Videoinstallation im Deutschen Theater München.
Yossef Gutfreund und Shmuel Rodensky umarmen sich und lachen. Um sie herum stehen drei Männer, die breit lächeln. Alle tragen Anzug, Rodensky ein gemustertes weites Hemd und eine Mütze. Im Hintergrund sind Kulissen zu erkennen.
Am Abend vor dem Attentat besucht die israelische Olympiadelegation das Deutsche Theater München und Yossef Gutfreund (Mitte) umarmt den Hauptdarsteller von Anatevka Shmuel Rodensky, 4. September 1972; © SZ-Photo, Fotograf: Otfried Schmidt

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Chișinău, die heutige Hauptstadt Moldawiens, ist 1931 Teil Rumäniens und am 1. November Geburtsort von Yossef Kurt Gutfreund. Er überlebt die Schoa mit seinen Eltern Gusta und Emil Gutfreund sowie der älteren Schwester Grete in verschiedenen Verstecken in Rumänien, Österreich und Ungarn. Alle anderen Angehörigen überlebt nicht.

1948 gelingt es Gusta und Emil Gutfreund mit ihren Kindern nach Israel zu migrieren. In Jerusalem eröffnen sie eine Pension, in der Yossef zunächst mitarbeitet. Bald beginnt er seinen sechsjährigen Pflichtwehrdienst abzuleisten. Danach lebt er vom Handel mit elektrischen Geräten, den er mit der arabischen Bevölkerung so betreibt wie mit der jüdischen.

1956 heiratet Yossef Gutfreund. Er und seine Frau Rachel leben in Jerusalem und bekommen zwei Töchter. Tochter Yael beschreibt das Familienleben als glücklich und Yossef Gutfreund als einen guten Vater, der seine Töchter gerne in die Natur mitnahm. Sein Herz hätte für Reisen und Tiere geschlagen, vor allem aber für den Sport. 1949 beginnt Gutfreund bei Hapoel Jerusalem zu ringen, bald darauf betreut er eine eigene Gruppe und schließlich das Nationalteam.

Drei Männer in sportlicher Kleidung stehen vor einer Halle. Yossef Gutfreund in der Mitte legt seine Arme um die beiden anderen. Er ist zwei Köpfe größer als der kleinere von beiden.
Yossef Gutfreund (Mitte) mit dem Gewichtheber Ze’ev Friedman (links) und dem Ringer Gad Tsabary (rechts) bei Hapoel Jerusalem, © privat; Scan: Bayerisches Ministerium für Unterricht und Kultus

Als Kampfrichter reist Yossef Gutfreund zu Ringtournieren nach Europa, Asien und Amerika. Die XX. Sommerolympiade 1972 in München ist für ihn die dritte, an der er als Schiedsrichter teilnimmt. Laut Tochter Yael hätte er in dieser Funktion in einem Hotel übernachten können, habe es aber vorgezogen bei seinen Freunden im Olympischen Dorf zu wohnen. Dort besucht Shmuel Rodensky, der in seiner Heimat Israel bereits als Hauptdarsteller im Musical Anatevka bekannt ist, die israelische Delegation. Er spielt seine Paraderolle gerade im Deutschen Theater München und lädt die Delegation zu einer Aufführung ein.

Am Abend des 4. September 1972 besucht Yossef Gutfreund zusammen mit einem Großteil der israelischen Delegation die deutschsprachige Vorstellung des Musicals. Unter ihnen ist Läuferin Esther Shahamorov, Israels größte Medaillenhoffnung, die auf dem besten Weg war, sich im Hürdenlauf für das Finale zu qualifizieren.

Ich war bis in die zweite Runde gekommen, doch es schien, als hätte die gesamte Delegation gewonnen. Alle freuten sich über den Erfolg. Es war ein sehr bewegender Abend. Während der Pause wurden wir zu einem Glas Wein eingeladen. Man schoss Fotos von mir und Shmuel Rodensky. Wir wurden von der ganzen Delegation gefeiert.

Esther Shahamorov
Mitglieder des israelischen Olympia-Teams stehen auf der Bühne und heben Esther Shahamorov und Shmuel Rodensky in die Höhe. Alle lachen ausgelassen in die Kamera.
Esther Shahamorov und der Hauptdarsteller von Anatevka Shmuel Rodensky werden von der israelischen Olympiadelegation im Deutsche Theater München hochgehoben, links hinter Shahamorov: Yossef Gutfreund, 4. September 1972; © SZ-Photo, Fotograf: Otfried Schmidt

Bald nachdem Yossef Gutfreund in das Olympische Dorf zurückkehrt, wird sein Appartement von palästinensischen Terroristen überfallen. Der fast zwei Meter große Kampfrichter stemmt sich mit ganzer Kraft gegen die Tür, warnt seine Mitbewohner durch Rufe und ermöglicht so dem Trainer Tuvia Sokolsky die Flucht über den Balkon, während es die Terroristen nur zu dritt schaffen die Tür gegen seinen Widerstand aufzudrücken. Yossef Gutfreund wird als Geisel genommen und in der darauffolgenden Nacht beim gescheiterten Befreiungsversuch am Fliegerhorst Fürstenfeldbruck erschossen. Sein Körper wird nach Israel geflogen und in Jerusalem beigesetzt.

Yossef Gutfreunds Töchter Judith und Yael erfahren in der Schule von dem Attentat. Yael erinnert sich an ihre Familie als glücklich bis zu dem Attentat: Emile Gutfreund ist am Boden zerstört über den Tod seines Sohnes. Er stirbt am 29. September 1972 an einem Herzinfarkt, während er einen Brief an Willy Brandt tippt. Rachel Gutfreund bekommt Diabetes und geht schlecht damit um, da ihr der Lebenswille fehlt.

Inzwischen ist Yossef Gutfreund nicht nur neunfacher Großvater, sondern auch elffacher Urgroßvater. Seine gesamte Familie trifft sich jedes Jahr am 5. September an seinem Grab.

Every 5th of September we go to the grave – the whole family – of four o’clock in the afternoon. And it’s not a sad event for us. We ’re happy, like we carry on and look at the big family that he left. And we don’t cry about it. It’s a very nice event for us. We feel like we won. They killed him but they didn’t kill his legacy.

Enkeltochter Shiran

Text: Angela Libal; Recherche: Piritta Kleiner, Kuratorin des Erinnerungsortes Olympia-Attentat München 1972, Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus

ZWÖLF MONATE – ZWÖLF NAMEN
50 Jahre Olympia-Attentat München

50 Jahre nach den Olympischen Spielen in München soll 2022 ganzjährig an das Olympia-Attentat am 5.-6. September 1972 erinnert werden. Jeden Monat steht dabei ein Opfer im Mittelpunkt des Gedenkens. Es sind verschiedene Interventionen im öffentlichen Raum geplant, von Installationen, die den ganzen Monat über zu sehen sein werden, bis hin zu eintägigen Aktionen.

Konzipiert und koordiniert wird das Erinnerungsprojekt vom Jüdischen Museum München und vom NS-Dokumentationszentrum München in Zusammenarbeit mit dem Generalkonsulat des Staates Israel. Die Umsetzung wird mit Kooperationspartnern wie dem Amerikahaus, dem Landkreis Fürstenfeldbruck, dem Deutschen Theater, der Polizeihochschule Fürstenfeldbruck und dem Polizeipräsidium München sowie weiteren Kultur- und Bildungseinrichtungen und anderen Interessierten erfolgen.

April

Im April widmen das Jüdische Museum München, das NS-Dokumentationszentrum, das Deutsche Theater München und das Israelische Generalkonsulat in München dem Schiedsrichter Yossef Gutfreund eine Videoinstallation. Diese ist bei Tag und Nacht im Durchgang des Deutschen Theaters in der Schwanthalerstraße 13 in München zu sehen und wird durch Informationen auf einer Stele ergänzt.