Arnold Dreyblatt, geboren 1953 in New York City, lebt und arbeitet als Medienkünstler und Komponist in Berlin. In seinen Arbeiten beschäftigt er sich immer wieder mit den Themen Erinnern und Vergessen. 2021 realisierte er am Münchner Königsplatz ein Mahnmal zum Gedenken an die Bücherverbrennung 1933. „The Blacklist / Die Schwarze Liste“ ist ein rundes begehbares Kunstwerk bestehend aus einer Bodenplatte mit den Titeln von 310 Werken, deren Autor_innen von den Nationalsozialisten verboten und öffentlich diffamiert wurden. Die Titel sind spiralförmig angelegt, sodass man das Kunstwerk immer wieder umrunden muss, um die Titel lesen zu können.
Für die Ausstellung „Die letzten Europäer. Jüdische Perspektiven auf die Krisen einer Idee“ im Jüdischen Museum München hat Dreyblatt nun eine neue Arbeit geschaffen. „Letzte Europäer?“ stellt die Frage nach einer verbindenden europäischen Idee und blickt auf deren fortwährende Bedrohung durch Kriege und Nationalismus. Die textbasierte Installation besteht aus drei Lentikulardrucken mit Zitaten europäischer Intellektueller auf Deutsch, Englisch und Esperanto. Die spezielle Drucktechnik ermöglicht es, mehrere Textebenen so übereinanderzulegen, dass aus verschiedenen Perspektiven unterschiedliche Texte sichtbar werden und die textliche Vielstimmigkeit visuell erfahrbar wird. Wir haben mit Arnold Dreyblatt über seine neue Arbeit gesprochen.
Herr Dreyblatt, die Zitate in der Installation „Letzte Europäer?“ stammen von Agnes Heller, Bernard-Henri Lévy, André Glucksman, Daniel Cohn-Bendit, Jaques Derrida und Jürgen Habermas sowie dem Erfinder der Plansprache Esperanto, Ludwik Zamenhof. Wie kam es zu der Auswahl der Texte?
AD: Die Zitate wurden in Zusammenarbeit mit der Kuratorin Felicitas Heimann-Jelinek ausgewählt. Mit Ausnahme von Zamenhof suchten wir nach Beiträgen europäischer Intellektueller, Philosoph_innen und Aktivist_innen, die in den letzten Jahren die anhaltende europäische Krise reflektiert haben. Diese Texte fungieren als Warnungen vor zukünftigen Konflikten und rechtsgerichteten, populistischen und totalitären Tendenzen. Sie spiegeln aber auch eine große persönliche Enttäuschung über den Zusammenbruch der Aufklärung und liberaler Werte wider – nicht nur in Europa, sondern weltweit. Obwohl die Aussagen aus den Jahren 2003 bis 2019 stammen, sind sie nach wie vor von eindringlicher Relevanz, besonders im Kontext der Ausstellungsinhalte.
„Letzte Europäer?“ ist die erste Arbeit, in der Sie sich mit Esperanto beschäftigen. Der 1859 in Białystok geborene Erfinder des Esperanto, Ludwik Zamenhof, hoffte dass eine gemeinsame „neutral-menschliche“ Sprache helfen könne, Kriege und Konflikte zu verhindern. Was können wir dieser Utopie aus heutiger Sicht noch abgewinnen?
AD: Als mir klar wurde, dass ich in das endgültige Werk auch Texte in der Sprache Esperanto aufnehmen würde, begann ich, mir Zammenhofs eigene Schriften genauer anzusehen und war fasziniert von seinen umfangreichen Schriften und der Weltanschauung, die hinter der Schaffung dieser neuen Sprache stand. Ich denke, wir müssen weiterhin aufpassen, dem Ruf nach neuen Utopien nicht blindlings zu folgen, gleichzeitig sollten wir uns aber erlauben, uns von solchen historischen Momenten inspirieren zu lassen. Wie es in der jüdischen Tradition heißt: „Es obliegt Ihnen nicht, das Werk zu vollenden, aber es steht Ihnen auch nicht frei, davon abzusehen.“ (Sprüche der Väter)
Ähnlich wie in Ihrer Arbeit „The Blacklist / Die Schwarze Liste“ ist der Text in „Letzte Europäer?“ nur lesbar, wenn man ständig seinen Standpunkt verändert. Warum haben Sie sich für diese Form entschieden?
AD: Seit 1984 lebe und arbeite ich in Deutschland und seither beschäftige ich mich in meiner künstlerischen Praxis vorrangig mit der Sammlung, Visualisierung und Vokalisierung von historischem Archivmaterial. Darin schwingen größere Themen wie Erinnerung, Geschichte, Bewahrung, Erhalt und Verlust von Kultur mit. Seit vielen Jahren fasziniert mich die Wahrnehmung von Figur und Grund in einem Schriftfeld. Ich neige dazu, in meinen Arbeiten enorme Mengen an Textmaterial zu präsentieren, das nie als Ganzes erfasst werden kann. Unser Wahrnehmungsapparat braucht einen Ast, an dem wir uns festhalten können. Wir greifen ein Fragment, einen Namen oder einen Satz auf einer bestimmten Ebene, der dann verloren geht, wenn wir gezwungen sind, diesen Ast loszulassen. Wir finden uns im Wald wieder, aber nur so lange, bis unsere Aufmerksamkeit wieder umherwandert und wir uns aktiv in Interaktion mit dem Werk bewegen. Dieser Prozess des Findens und Verlierens, und die Assoziationen, die diese Fragmente verbinden, bilden den Kern meiner Praxis.
Anders als bei „The Blacklist“ gibt es in Ihrer neuen Installation immer Überlagerungen zwischen den Textebenen und Lücken in den einzelnen Zitaten. Sie beschreiben diese Form als Palimpsest. Ist diese Form als Metapher für ein (lückenhaftes) europäisches Gedächtnis zu verstehen?
AD: Wir leben heute in einer Kakophonie von Aussagen, Positionen und Meinungen im Zusammenspiel mit einem sich rasch zurückziehenden kollektiven historischen Bewusstsein. Die letzte Aussage dieser Ausstellung ist, dass wir in einem Raum der Reflexion und Hinterfragens ankommen, in dem wir keine Antworten haben, sondern nur Fragmente verlorener Chancen und möglicher Zukünfte. Ich habe mich für die Lentikulartechnik entschieden, um dieses instabile Textfeld zu simulieren und uns zu zwingen, unseren Körper und unser Wahrnehmungsfeld aktiv zu bewegen, um uns mit Fragmenten dieser wichtigen Texte auseinanderzusetzen.
Die Installation „Letzte Europäer?“ ist bis zum 21. Mai 2023 im Rahmen der Ausstellung „Die letzten Europäer. Jüdische Perspektiven auf die Krisen einer Idee“ im Jüdischen Museum München zu sehen. Am 28. Februar 2023 laden wir Sie herzlich ein zum Podiumsgespräch mit Arnold Dreyblatt und den Kuratorinnen Dr. Felicitas Heimann-Jelinek und Dr. Michaela Feurstein-Prasser:
Podiumsdiskussion „Letzte Europäer?“, 28.02.2023, 19.00 Uhr, Eintritt frei.