Doch zunächst ein kurzer Blick zurück: Von November 2018 bis September 2019 war im Jüdischen Museum München die Ausstellung „Sieben Kisten mit jüdischem Material – Von Raub und Wiederentdeckung 1938 bis heute“ zu sehen, eine Koproduktion mit dem Museum für Franken in Würzburg. Unter den vorgestellten Objekten befand sich auch ein Purim-Teller, der im Ausstellungskatalog durch die Übersetzung eines jiddischen Artikels des Forschers Mordechai W. Bernstein näher beleuchtet wurde.
Bernstein reiste von 1948 bis 1951 als Forscher für das Yidisher Visnshaftlekher Institut (YIVO) und die Jewish Cultural Reconstruction, Inc. (JCR) durch Deutschland auf der Suche nach materiellen Spuren ehemaliger jüdischer Gemeinden, deren Mitglieder während der Schoah oder anderer antisemitisch motivierter Verfolgungsmaßnahmen vertrieben oder ermordet wurden. Einige dieser Objekte veröffentlichte er später in drei Publikationen, darunter auch ein Text zu eben jenem Purim-Teller.
Aus diesem Katalogbeitrag entstand schließlich die Idee für eine Ausstellung, die voraussichtlich im Frühjahr 2021 eröffnet wird: Vorgestellt wird Bernsteins Arbeit für das YIVO und die JCR und damit die Anfänge der Kulturrestitution durch internationale jüdische Organisationen in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Darüber hinaus behandelt Bernstein auch Objekte von Gemeinden, die bereits vor der Schoah durch verschiedene Verfolgungsmaßnahmen ausgelöscht wurden. Durch die Präsentation ausgewählter Objekte, die Bernstein in seinen Publikationen behandelt, werden zudem die Traditionen und die Geschichte dieser Gemeinden wieder lebendig.
Bei dem derzeitigen Stand der Ausstellungsvorbereitungen ist ein Schwerpunkt der Leihverkehr und die Anfertigung der Objektliste mit deren Hilfe die Ausstellungsarchitektur geplant werden kann. Eigentlich. Denn die Schließung der Museen erschwert die Organisation des Leihverkehrs, der Zugang zu den Objekten ist oftmals nicht möglich. Daher beschränkt sich die derzeitige Arbeit vor allem auf Recherche – Recherche für die Ausstellung selbst, aber auch für den Ausstellungskatalog.
Und so sitzen die Mitarbeiter_innen nicht im Depot vor einem Objekt, sondern bei sich zu Hause vor einem Bücherstapel. Wobei nur der Arbeitsort, nicht aber das Arbeitsmaterial ungewöhnlich ist. Ein Großteil der Ausstellungsplanung besteht zunächst aus wissenschaftlicher Recherche, erst wenn diese abgeschlossen und der Bücherstapel durchgearbeitet ist, kann eine Ausstellung realisiert werden.
Im konkreten Fall der Ausstellungsplanung zu Bernstein verspricht die Recherche spannende Aspekte: Eines der geplanten Objekte ist der Opferstock in Thannhausen. Zunächst wird zur Recherche in diesem Fall der jiddische Text Bernsteins herangezogen. Bernstein erzählt, dass es in dem schwäbischen Ort Thannhausen eine evangelische Kirche, die „Stadionkapelle“ gibt, die im Volksmund als „Synagoge“ bezeichnet wird. Um diesem Phänomen nachzugehen fährt Bernstein nach Thannhausen, spricht dort mit den Anwohnern, recherchiert in verschiedenen Archiven und arbeitet so die Geschichte der Thannhausener jüdischen Gemeinde auf.
Nachdem die Reichsgrafschaft Thannhausen 1706 von Graf Philipp Johann von Stadion in Besitz genommen wurde, veranlasste dessen Frau 1718 die Vertreibung der jüdischen Gemeinde aus dem Ort. Ein Bittgesuch der Juden beim Kaiser war vergebens, sodass sie sich schließlich in den umliegenden Städten niederließen. Der Graf von Stadion wiederum ließ 1722 die Synagoge der Gemeinde abreißen und an deren Stelle eine Kirche, eben die „Stadionkapelle“ errichten. Das einzige Relikt der jüdischen Gemeinde, das erhalten geblieben ist, ist ein Opferstock, der bis heute im Eingangsbereich der Kapelle steht. Wohl nach der Vertreibung ist darauf ein Bild angebracht worden, auf dem in der oberen Hälfte Moses mit den Gesetzestafeln und auf der unteren Hälfte eine Monstranz abgebildet ist. Das Bild und die darauf befindliche Inschrift kontrastieren Altes und Neues Testament, Tora und Bibel, Judentum und Christentum wobei letzteres als überlegen dargestellt wird.
In der weiteren Recherche werden nun zum einen die Angaben Bernsteins überprüft: Personen, Orte, zeitliche Abläufe. Dies lässt sich am besten durch die Arbeit mit Quellen in Archiven erledigen. Doch auch dieser Zugang ist derzeit beschränkt, sodass auf Bücher und digitale Materialien zurückgegriffen werden muss. Das „Thannhauser Heimatbuch“ beispielsweise bestätigt Bernsteins Bericht im Wesentlichen, weicht jedoch in einigen Details ab. So schreibt Bernstein die Gräfin von Stadion hätte die jüdische Bevölkerung deshalb vertrieben, weil sie selbst unfruchtbar war und den Juden unterstellte, diese hätten sie mit einem Zauber belegt. Das Heimatbuch erwähnt diese Motivation nicht, bietet aber auch keine andere Erklärung. Dem ist also noch weiter nachzugehen. Außerdem stellt sich die Frage, weshalb nach der Zerstörung der Synagoge der Opferstock erhalten wurde. Bernstein bezeichnet ihn als „Trophäe“ der Gräfin. Da der Abriss der Synagoge jedoch erst vier Jahre nach der Vertreibung erfolgte, lässt sich diese Annahme in Zweifel ziehen. Diesen und anderen Fragen wird in der weiteren Recherche nachgegangen.
Zum anderen erfolgt eine breitere Kontextualisierung des Objekts, da wie einleitend erwähnt die Präsentation der Objekte auch Anlass sein soll jüdische Traditionen erklärend darzustellen. Der Opferstock muss in diesem Sinne vor dem Konzept der Wohltätigkeit betrachtet werden, das im Judentum fest verankert und vor allem mit dem Begriff „Zedaka“ verbunden ist. Schon in der Tora wird festgelegt, dass den Armen der Gemeinschaft Hilfe zuteilwerden soll. Im Talmud werden diese Grundlagen noch weiter vertieft. So sollen Bedürftige durch die Almosen nicht beschämt werden. Daher wurden schon früh Spendenbüchsen eingeführt, sodass Geldgeber und Empfänger einander nicht begegnen. Diese Spendenbüchsen wurden in den Synagogen aufgestellt oder aber von Bruderschaften genutzt um für ihre Zwecke Spenden zu sammeln, beispielsweise von der Chewra Kadischa, der Beerdigungsbruderschaft.
Durch diese Form der wissenschaftlichen Recherche werden die Objekte und ihr Kontext folglich historisch und kulturell aufgearbeitet und können so in das Gesamtkonzept der Ausstellung integriert werden. Und diese Form der musealen Arbeit lässt sich – zum Glück – mit Hilfe einiger Bücherstapel auch im Home-Office erledigen.