Sicherlich gehören Speisen aus den unterschiedlichen Kohlsorten auf den Tisch in Bayern. Auch bei den Anfang des 20. Jahrhunderts in Bayern lebenden jüdischen Familien waren die Gerichte aus dieser Gemüsesorte sehr beliebt. Das „Kochbuch für die einfache und feine jüdische Küche“ von Marie Elsasser (1905), das wir als eine Quelle für unseren Blog wählen, listet mehr als 50 Kohl-Rezepte der „pfälzischen und süddeutschen jüdischen Küche“ auf. Marie Elsasser (1876-1946), die eigentlich in England lebte, verdankte ihre Kenntnisse über die jüdischen Speisen ihrer „verehrten Großmutter, einer geborenen Pfälzerin, die noch aus der guten alten Zeit stammte“, da die „Hausfrau selbst und mit Stolz kochte und sich keine Mühe zu viel werden ließ, um Hausgenossen und Gästen den Tisch gut und erfreuend zu gestalten“.
Heute werden wir einen mit Fleisch gefüllten Weißkohl nach dem Originalrezept Marie Elsasser‘s Oma nachkochen. Aber warum kochen wir ausschließlich den gefüllten Kohl? Erstens, weil es sicherlich lecker wird. Zweitens, weil dieses Rezept uns viel sowohl über die Tradition, als auch über die sozialen und wirtschaftlichen Umstände des süddeutschen Judentums im 19. Jahrhundert erzählen kann.
Rezept 1257: Weißkraut, gefüllter:
An der oberen Seite eines ganz fest geschlossenen, großen Krautkopfes wird ein kleiner Deckel herausgeschnitten und beiseite gelegt; sodann höhlt man den Krautkopf mittels eines Messers ziemlich tief aus, kocht das Ausgehöhlte im siedenden Wasser weich und verhackt es fein; nun bereitet man eine Fülle von feingehackten Zwiebelchen, eingeweichtem, ausgedrücktem Wasserweck, fein gehacktem Ochsenmark und rohem, sehnenfreiem Kalbfleisch, dem gehackten Kraut, 1-2 Eidottern, Salz, Pfeffer und Muskatnuss und fügt nach Belieben auch noch einige weichgekochte, durchgetriebene Kastanien unter die Masse; die Höhlung des Krautkopfes wird mit derselben angefüllt und das Deckelchen mit einer dünnen Schnur sorgsam darauf gebunden; der ganze Kopf wird nun in siedender Fleischbrühe oder Salzwasser weich gesotten, angerichtet und mit Fett und Weckmehl abgeschmälzt.
In der aschkenasischen Küche des 19. und 20. Jahrhunderts, zu der auch die Küche der bayerischen Juden zählt, waren vor allem zwei Herangehensweisen durchaus verbreitet und beliebt: das Prinzip des Füllens und das Prinzip des Siedens oder Dünstens. Im Kochbuch von Marie Elsasser findet man zahlreiche Rezepte für gefülltes Gemüse, das immer auch gedünstet werden sollte. Die Zwiebeln, die Tomaten, sogar die Gurken werden nach dieser Art und Weise gekocht.
Die beiden Prinzipien sind auch für die Zubereitung unseres heutigen Rezepts entscheidend. Warum hat man aber das Füllen mit dem Dünsten so oft kombiniert? Wir vermuten, dass eine Tradition der Zubereitung von Schabbat-Speisen dahintersteht. Der Schabbat gilt im Judentum als ein Feiertag, zu dem auch ein festlich servierter Tisch in der Regel gehören soll. Aber wie kann man sich im 19. Jahrhundert so etwas leisten – jede Woche ein Festmahl? Die Antwort auf diese Frage liegt in der Fleischfüllung. Wenn die Füllung eines Kohls ein wenig Fleisch beinhaltet, gilt diese Speise nach den jüdischen Speisegesetz (Kaschrut) automatisch als eine fleischige, und dadurch auch als eine festliche Speise. So verwandelte eine Fleischfüllung ein alltägliches Gemüse in eine festliche Speise.
Nun zum Dünsten. Die jüdisch-religiöse Tradition verbietet das Entfachen von Feuer am Schabbat, erlaubt aber unter gewissen Bedingungen die Nutzung eines vor Beginn des Schabbats angezündeten Feuers. Heutzutage haben viele Haushalte elektronische Herdplatten mit einem Schabbat-Modus, der das lange Warmhalten einer vorgekochten Speise ermöglicht. Aber wie wurde es früher gemacht? Um ein warmes Abendessen zu bekommen, stellte man die Töpfe vor Beginn des Schabbats in Backöfen und dünstete die Speisen über Nacht. Nicht alle jüdischen Familien hatten aber Backöfen zu Hause. Deswegen wurden oft die großen Backöfen der jüdischen Gemeinden benutzt, um das Essen für den Schabbat vorzubereiten. In diesem Fall wurden die verschiedensten Töpfe/Speisen unter den gleichen thermalen Bedingungen gemeinsam über Nacht gedünstet, was die Verbreitung dieser Kochmethode erklärt. Somit ist das Rezept des gefüllten Kohls nichts anderes als eine Verflechtung der jüdisch-religiösen Tradition mit der sozialen und ökonomischen Lebenssituation der süddeutschen Jüdinnen und Juden im 19. Jahrhundert.