Von Katrin Diehl
2020 gibt es also keine Wiesn. Das Oktoberfest fällt aus. Immerhin bereits zum 25. Mal seit dem großen Hochzeitstreiben, damals als Prinzregent Ludwig von Bayern Prinzessin Therese von Sachsen-Hildburghausen zur Frau nahm. Damit hatte, wie jedes Münchner Schulkind weiß, alles begonnen am 12. Oktober 1810. Drei Jahre später gab’s dann schon die erste Unterbrechung und zwar wegen Napoleon und dessen Kriegen. Kriege sollten noch öfter dafür sorgen, dass es auf der Theresienwiese nichts zu feiern gab. Desweiteren Epidemien und Inflationen.
Natürlich trifft das die Münchnerinnen und Münchner immer sehr, wenn keine Wiesn stattfindet. Zumindest viele von ihnen. Auch rein wirtschaftlich. Und natürlich trifft das die Münchner Jüdinnen und Juden sehr. Zumindest viele von ihnen. Und darum geht es in unserer Fotoausstellung „Judn ohne Wiesn“ – neben aller leichten Beschaulichkeit am Ende eines auf seine Art großen Sommers – eben auch: um die vielbeschworenen Gemeinsamkeiten zwischen einer Mehrheitsgesellschaft, wie man das ein bisschen protzig nennt, und einer Minderheitsgesellschaft; Gemeinsamkeiten, die es immer mal wieder lohnt, zu betrachten, und die unter anderem darin bestehen, dass mit Einigkeit innerhalb der großen wie der kleinen Gesellschaft kaum zu rechnen ist. Und wir existieren ja auch nicht einfach nebeneinander her. Dafür haben wir im Alltag zum Glück viel zu viel miteinander zu tun. Zur reinen Information dieses: München hat an die 1,5 Millionen Einwohner, die Münchner jüdische Community dürfte an die 11 000 Menschen zählen.
Repräsentativität lag uns bei unserer Ausstellung mehr als fern. Wir baten Männer, Frauen, Kinder, Paare… vor die Kamera, die einfach Lust hatten auf so ein Sommerprojekt, ließen sie die „Location“ fürs „Shooting“ bestimmen, fragten, wo sie sich „dahoam“ fühlten, führten sie auch einmal auf die leere Theresienwiese, die so leer ganz schnell nicht mehr war. Und dann durften sie zur Schau stellen, wie sehr ihnen das Oktoberfest fehlt, durften erzählen, in Erinnerungen schwelgen oder auch ganz nüchtern berichten…
Die Ausstellung funktioniert übers Auge. Sie ist ja eine Fotoausstellung. Und da fallen die Trachten, die wunderschönen Dirndl, die krachernen Lederhosen, nicht zu vergessen, die Haferlschuh, auf. So stellt sich die Welt Münchnerinnen und Münchner vor. Wer genauer hinsieht, erkennt hier und da einen David-Stern, einen Chai-Anhänger… als hübsche Beigabe. Und da ging es dann schon los: Damit würden sich die einen nie und nimmer auf der Wiesn zeigen, die anderen dagegen ziehen nie und nimmer ohne sie los. Die einen fühlen sich in Dirndl und Lederhose mehr als zuhause, die anderen machen einfach mit bei diesem „Verkleidungsfest“. Die einen „sind einfach Bayern“, die anderen sind das auf keinen Fall und die dritten wären es eigentlich ganz gerne. Denn auch das ließ sich zwischen den Sätzen oft deutlich spüren, eine generationenlange Sehnsucht nach Normalität.
Das Thema Tracht, ganz allgemein, ist gar nicht so einfach. Dieses Kleidungsstück schwebt in einem schwer fassbaren Raum. Einerseits haftet ihm die Funktion an, übers Tragen Zugehörigkeit zu demonstrieren. Andererseits steht es gerade heute für eine Art „Leichtigkeit des Seins“, feiert die Freiheit, einfach das anziehen zu dürfen, wonach einem in aller gutgelaunten Seligkeit eben zu Mute ist. Am 30. Juni 1938 verkündete jedenfalls der „Völkische Beobachter“ ein „Trachtenverbot für Juden“. Ganz vergessen lässt sich die Geschichte nicht. Im Gegenteil.
Ist es überhaupt noch möglich, Tracht zu tragen, nach all dem? Man kann das durchaus und angelehnt an Theodor W. Adorno als eine nicht „minder kulturelle“ provokante wie rhetorische Frage bezeichnen, bei der es am Ende natürlich vor allem um den ihr folgenden bereichernden Bewusstseinsprozess geht.
„Und das Bier! Es ist, G’tt sei Dank, koscher! Und die Weißwurst auch! Äh? Die eher nicht… Ach, so. Dann eben nicht. Aber das Bier!“ Unsere Interviews, die die Fotosessions begleiteten, hatten oft etwas sehr Heiteres. Aber natürlich gab es die auch – und wir kennen das von der echten Wiesn –, diese ein wenig besinnlichen Momente. Deutlich vernahmen wir ein tiefes Durchatmen immer dann, wenn es zum Beispiel aufs Thema jüdische Feiertage und Wiesn zu sprechen kam. Die stehen sich nämlich oft so richtig im Wege. Zum 200. Jubiläum, das war 2010, fiel das „O’Zapfn“ exakt auf Jom Kippur, den höchsten jüdischen Feiertag! Das beschäftigt die Münchner wie bayerischen Jüdinnen und Juden, seit es die Wiesn gibt, die am End dann also doch keine jüdische Erfindung sein kann, wie eines unserer „Foto-Models“ augenzwinkernd zugeben musste.
Was das Thema Bier anbelangt, da gibt es allerdings – der bayerischen Brauereiverordnung sei Dank – wirklich eine recht enge jüdisch-bayerische Beziehung. Es ist koscher (wenn auch zu Pessach nicht koscher genug…)! Ende des 19. Jahrhunderts beteiligten sich zudem nicht wenige aus der jüdischen Stadtgesellschaft am Hopfenhandel, so dass zwischen den beiden Kriegen die weltgrößte Hopfenbörse in Nürnberg auch schon mal verkündete: „Wegen der jüdischen Feiertage geschah gestern und heute im Hopfenhandel nichts“. In München selbst lebten bis 1933 einige Familien jüdischer Herkunft vom Brauereiwesen, prominent die Schüleins, allen voran Hermann Schülein, von 1924 an Generaldirektor des „Löwenbräu“.
Wir könnten da noch vieles erzählen. Zum Beispiel auch von den „Wallachs“ mit ihrem Trachtengeschäft zwischen Münchner Marienplatz und Oper. Die Familie Wallach war jüdischer Herkunft, kam aus Bielefeld und hat sich, bergbegeistert wie sie war, Ende des 19. Jahrhunderts in München niedergelassen. Die Wallachs brachten die Tracht vom Land in die Stadt, statteten die Operette „Im weißen Rößl“ mit Kostümen aus wie, zum 100. Jubiläum der Wiesn, den gesamten Festumzug mit dem „passenden Gwand“.
1886 leuchtete das Oktoberfest zum ersten Mal „elektrisch“. Dafür trug die Firma „Elektrotechnische Fabrik J. Einstein & Cie“ Sorge, hinter der sich Vater und Onkel von Albert Einstein verbargen. Die kleine Fabrik ging sechs Jahre später bankrott, die Einsteins wanderten (ohne Albert!) nach Oberitalien aus, aber die Wiesn leuchtete weiter, wie München ja immer irgendwie weiter „leuchtete“. 1938 kam im ehemaligen Firmengebäude der Einsteins, nach dem von Adolf Hitler angeordneten Abriss der Hauptsynagoge, die Verwaltung der jüdischen Gemeinde unter.
Die historischen Verbindungen zwischen dem Münchner Oktoberfest und den jüdischen Münchnerinnen und Münchnern zeigen sich so interessant, vielfältig wie altehrwürdig. Als Argumente sollten sie nicht herhalten müssen, wenn es um Jüdinnen und Juden heute und deren Wunsch nach Normalität geht. So ein Wunsch bedarf weder der Argumente noch irgendwelcher Traditionen, so wichtig die für die Historie auch sind.
Mit Blick aufs Heute laden wir Sie herzlich vom 15.9. bis 18.10. zur Fotoausstellung „Judn ohne Wiesn“ ins Jüdischen Museum München ein, wo Sie gleich im Eingangsbereich und kostenlos ein wenig Wiesn-Luft schnuppern können. Ab dem 15.9. können Sie auch hier auf dem Blog regelmäßig Interviews unserer „jüdischen Wiesngänger und -gängerinnen“ lesen.
Fotoausstellung „Judn ohne Wiesn. Begegnungen mit Münchnerinnen und Münchnern in Tracht“
Lydia Bergida (Fotografien und Idee)und Katrin Diehl (Textarbeit)
Vom 15.9. bis 18.10. im Foyer des Jüdischen Museum München
Eintritt frei
Lydia Bergida ist in der Nähe von Tel Aviv geboren und lebt seit ihrem 3. Lebensjahr in Deutschland, seit 1998 als Münchnerin. Sie studierte Jura in Köln, arbeitet als Mediatorin sowie in einer jüdischen Bildungseinrichtung und ist seit vielen Jahren als Fotografin in den Bereichen Fotoreportage, Visual Storytelling und Street Photography unterwegs.
Dr. Katrin Diehl wurde in Mannheim geboren, studierte an der „Hochschule für Jüdische Studien“ in Heidelberg sowie an der „Deutschen Journalistenschule“ in München. Sie ist seit vielen Jahren in München als freie Journalistin tätig im Bereich Kultur und „Menschen“, ebenso als Autorin literarischer Texte.