„Ein ‚Exponat‘ von dort schickte ich an das YIVO-Institut in New York.“

In Deutschland suchte Mordechai W. Bernstein nach geraubtem Kulturgut für die Jewish Restitution Successor Organization und die Jewish Cultural Reconstruction, Inc. Darüber hinaus sammelte er aber auch Material für das Jüdische Wissenschaftliche Institut (YIVO), eine Forschungseinrichtung, der er sein Leben lang verbunden war.
Verbrannte Tora-Rollen aus Worms. Ein Exemplar schickte Mordechai W. Bernstein an das YIVO in New York. Abb. aus: Mordechai W. Bernstein, Nisht derbrente shaytn, Buenos Aires 1956, S. 133.

Im Sommer 1925 beschloss eine Gruppe von Forscher_innen und Intellektuellen die Gründung einer akademischen Einrichtung, um jüdisches Leben in all seinen Aspekten und Formen zu studieren und zu dokumentieren. Am Yidisher Visnshaftlekher Institut (Jüdisches Wissenschaftliches Institut, YIVO) forschten Wissenschaftler_innen fortan in den Bereichen Geschichte, Philologie, Ökonomie und Statistik sowie Psychologie und Bildung. Dazu sammelten sie Materialien, die von historischer und kultureller Bedeutung für osteuropäisches Judentum und jiddische Kultur waren. Bis 1939 hatte das YIVO so eine der weltweit größten Judaica-Sammlungen aufgebaut. Sie umfasste Bücher, Fotografien, Briefe, Objekte u.ä.

Der Hauptsitz des YIVO befand sich in Wilna, darüber hinaus gab es aber weltweit weitere Einrichtungen, unter anderem in Warschau. Hier begann Mordechai W. Bernstein erstmals seine Arbeit für das Forschungsinstitut. Er war 1930 mit seiner Frau aus Bytén nach Warschau gezogen, wo 1931 ihre Tochter Masha geboren wurde. Nachdem 1939 die Deutschen in Polen einmarschiert waren, floh die Familie nach Litauen. In Wilna arbeitete Bernstein als Journalist und Historiker erneut am YIVO, bis er im August 1940 von der sowjetischen Geheimpolizei verhaftet wurde.

Als Wilna 1941 unter deutsche Besatzung fiel, war Bernstein noch immer in Haft. Das YIVO in Wilna wurde vom Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg geplündert. Der damalige Leiter des YIVO, Max Weinreich, befand sich zu dieser Zeit zufällig für eine Konferenz im Ausland und schaffte es nach Amerika zu fliehen. In New York etablierte er den neuen Hauptsitz des YIVO.

Nach Kriegsende bemühte sich das YIVO, die von den Nationalsozialisten geraubte Wilnaer Sammlung zu finden und eine Rückerstattung zu erwirken. Einen Großteil der Sammlung fand man in der Nähe von Frankfurt/Main. Die Materialien waren für das von den Nationalsozialisten geplante „Institut zur Erforschung der Judenfrage“ vorgesehen gewesen. Dieser Bestand wurde 1947 an das YIVO restituiert. Weitere Sammlungsbestände fand man in der sowjetischen Besatzungszone. Hier gestalteten sich die Verhandlungen über die Rückerstattung schwieriger und scheiterten schließlich vollständig.

Mordechai Bernstein war 1948 nach Deutschland gekommen, um der politischen Verfolgung in Polen zu entgehen. Er begann als Korrespondent in Westdeutschland für das YIVO zu arbeiten: Er suchte geraubtes Kulturgut, sammelte Pamphlete aus DP-Camps und Antisemitika und erstellte Spezialinventare über Archivbestände jüdischer Gemeinden, die er an das YIVO in New York schickte. Nach seiner Emigration nach Buenos Aires im Jahr 1952 war Bernstein für den dortigen Ableger des YIVO als Bibliothekar tätig. Schließlich engagierte er sich auch am neuen Hauptsitz des YIVO in New York, wo er sich 1962 endgültig niederließ.

Das YIVO wurde in der Nachkriegszeit zu einem der Pioniere in der Holocaust-Forschung und begann darüber hinaus sich zunehmend mit der Migrationsgeschichte osteuropäischer Jüdinnen und Juden zu beschäftigen. Es blieb jedoch auch immer seinen Ursprüngen treu, wie beispielsweise in dem umfassenden Studienangebot zum Jiddischen deutlich wird. Heute umfasst das YIVO rund 350.000 Bücher und 3.000 Meter Archiv Material. Es handelt sich um die größte Sammlung zur jiddischsprachigen Kultur und der Geschichte osteuropäischen Judentums.

Zitat in der Überschrift aus: Bernstein, Mordechai W.: Verbrannte Tora-Rollen und geschändete Pergamentblätter. In: Purin, Bernhard/Winkler, Ayleen (Hg.): Mit Mordechai W. Bernstein durch 1700 Jahre deutsch-jüdische Geschichte. Mit Übersetzungen aus dem Jiddischen von Lilian Harlander und Lara Theobalt, S. 60-67, hier S. 66.