Gewalt als Basis für „Die letzten Europäer. Jüdische Perspektiven auf die Krisen einer Idee“

Der erste Raum unserer aktuellen Wechselausstellung widmet sich der europäischen Gewaltgeschichte. Kuratorin Felicitas Heimann-Jelinek über Gewalt als Basis für das „Projekt Europa“ und die Anfänge der Europäischen Union.
Blick in den Ausstellungsraum: Vor einer Videoprojektion sind deckenhohe schwarze Gitterstäbe, an denen eine rote Leuchtanzeige mit einer Zahl montiert ist. An den Wänden rechts und links Text, davor eine Bank.
Ausstellungsansicht mit Installation zur europäischen Gewaltgeschichte. Foto: Eva Jünger, © JMM

Von Felicitas Heimann-Jelinek

Die Ausstellung „Die letzten Europäer. Jüdische Perspektiven auf die Krisen einer Idee“ beginnt mit der Zahl 125.300.000. Hinter dem mathematischen Objekt, dem messenden Denken, der abstrakten Größe von 125.300.000 sind konkrete Gestalten den Lesenden entzogen, sind Tote, ehemals Menschenleben, verborgen: Es ist dies die Summe aus der europäischen Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts. Nota bene: des 20. Jahrhunderts. Die Toten der europäischen Gewaltgeschichte des 21. Jahrhunderts sind nicht inkludiert. Europäische Gewaltgeschichte hört sich vielleicht zu distanziert an. Besser müsste es heißen: Unsere Geschichte, forderte auf europäischem und außereuropäischem Boden allein im 20. Jahrhundert mehr als einhundertfünfundzwanzig Millionen Menschenleben. Eine abstrakte Zahl jenseits der Vorstellung und des Begreifens. Auf einer Leuchtanzeige wird sie im Verlauf der Ausstellungsdauer heruntergezählt auf Null, – wir arbeiten also quasi via Ausstellung diese Totenzahl ab, die am Ende wieder in die Geschichte zurücksinkt, aus der wir sie nur für eine kurze Zeit herausholen können. Diese Zahl 125.300.000 wird ergänzt durch eine Art stenografisch angelegtes „Tagebuch“ der europäischen Gewaltgeschichte, das handschriftlich auf die Wand aufgetragen wurde sowie durch eine Projektion mit individuell nicht identifizierbarem Foto- und Filmmaterial. Konzeptionell bildet die Installation zur europäischen Gewaltgeschichte die Basis der Ausstellung. Im Stockwerk darüber ist zu sehen, wie aus dieser konkreten Monstrosität, aus dieser einhundertjährigen europäischen Gewaltgeschichte das europäische Projekt erwuchs, das aus der Sicht der einen dem Frieden, nach dem Willen der anderen eher der Durchsetzung liberaler Wirtschaftspolitik dienen sollte.

Links: Handgeschriebener Wandtext „Europäische Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts“ mit einer Liste der Konflikte und Opferzahlen nach Jahren; rechts: Schwarz-Weiß-Portrait Walther Rathenau
„Tagebuch“ der europäischen Gewaltgeschichte, Schrift: Petra Wöhrmann, Foto: Eva Jünger, © JMM; Walther Rathenau, vermutlich Berlin, ca. 1920, © Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. 2008/291/0

Die EU – Friedens- oder Wirtschaftsunion?

Die Idee Europa war keineswegs ein von Pazifismus beseeltes Projekt: „Verschmilzt die Wirtschaft Europas zur Gemeinschaft und das wird früher geschehen, als wir denken, so verschmilzt auch die Politik“, prophezeite Walther Rathenau nach dem Ersten Weltkrieg. Als Vertreter der liberalen Deutschen Demokratischen Partei wurde er 1922 Außenminister der ersten deutschen Republik. 1922, im selben Jahr, in dem rechte Terroristen den ihnen als „Erfüllungspolitiker“ und Jude verhassten Reichsaußenminister Walther Rathenau erschossen, wurde „auf christlich-abendländischem Wertefundament“, wie es so schön hieß, mit viel jüdischem Engagement die Paneuropa-Bewegung begründet. Diese Paneuropa-Bewegung blieb jedoch im Großen und Ganzen bedeutungslos. Rathenaus Idee einer Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft hingegen wurde 1957 Wirklichkeit. Aus ihr erwuchs 1992 schließlich die Europäische Union.

Die Vorteile eines wirtschaftlichen Zusammenrückens der europäischen Länder waren spätestens seit Rathenau in Worte gefasst. Der Anstoß zu seiner schrittweisen Realisierung nach dem Zweiten Weltkrieg kam zum Teil aber auch von den Imperativen „Nie wieder!“ und „Niemals vergessen!“. Diese Schlagworte hatten allerdings unterschiedliche Bedeutungen für die verschiedenen Bevölkerungsgruppen Europas, die denn auch nicht unbedingt das Gleiche in das europäische Gedächtnis eingemeißelt wissen wollten, um eine Wiederholung des Schrecklichen zu verhindern. Die Vergangenheitsbewältigung auf Opfer-, Täter-, Mitläufer- und Widerstandsseite ist bis heute nicht abgeschlossen, doch hat sie ihre Spuren in verschiedenen Instanzen, Strukturen und Einrichtungen der EU hinterlassen.

Die auf unserer Gewaltgeschichte basierenden Themen stellen direkt oder indirekt immer auch die Frage nach dem europäisch-jüdischen Handlungsraum. „Die letzten Europäer“, die wir in unserer Ausstellung vorstellen, leben im Spannungsfeld zwischen Konsens und Dissens im Ringen um das „Projekt Europa“. Ob dieses „Projekt Europa“ trotz der von Europäern und Europäerinnen bewusst oder unbewusst mitgetragenen Gewalt innerhalb und außerhalb Europas bestehen wird können, ist eine bange Frage an die Zukunft. Angesichts der Kriege im ehemaligen Jugoslawien und angesichts des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine zeigt sich die Ohnmacht des immer wieder beschworenen europäischen Pazifismus, auf der anderen Seite zeugen zunehmend prekäre Arbeits- und Wohnverhältnisse in Europas Städten von der Macht des Neoliberalismus.

Die Ausstellung „Die letzten Europäer. Jüdische Perspektiven auf die Krisen einer Idee“ ist noch bis zum 21. Mai 2023 im Jüdischen Museum München zu sehen.  

Die Texte und Videos der Ausstellung können über den Ausstellungs-Blog des Jüdischen Museums Hohenems aufrufen werden.