Tora-Wimpel: „…ein nur wenig bekanntes Fragment des Brauchtums und der Lebensweise deutscher Juden…“

In Göttingen findet Mordechai W. Bernstein Spuren eines jüdischen Brauches, der ihm aus seiner osteuropäischen Heimat nicht bekannt war: Tora-Wimpel, die zum Zusammenbinden der Tora-Rolle genutzt wurden, waren lange Zeit in Deutschland verbreitet.
Präsentation eines Tora-Wimpels aus dem Städtischen Museum Göttingen (Inv. Nr. 2011/254) in der Ausstellung „Im Labyrinth der Zeiten“ im Jüdischen Museum München, Foto: Eva Jünger © JMM

Von Ayleen Winkler

Schnell wird von „dem Judentum“ gesprochen. Das ist für die alltägliche Kommunikation zwar schön unkompliziert, genau genommen aber nicht zutreffend. Denn es gibt zahlreiche verschiedene Formen „des Judentums“, die sich in verschiedensten Aspekten unterscheiden, so auch in Bräuchen und Traditionen.

Mordechai W. Bernstein, der 1948 bis 1951 in Deutschland nach materiellen Resten jüdischer Kultur suchte, ist in Polen geboren und aufgewachsen. Bei seiner Reise durch Deutschland stieß er immer wieder auf Bräuche und Traditionen, die ihm aus dem osteuropäischen Judentum nicht vertraut waren.

Ein Beispiel für einen solchen Brauch sind Tora-Wimpel, mit denen die Tora-Rolle umwickelt und zusammengehalten wird. Ein Wimpel wird aus der Windel gefertigt, die ein Junge bei seiner Beschneidung getragen hat. Die Windel wird dazu in vier lange Stoffstreifen geschnitten, die zu einem langen Band zusammengenäht werden. Darauf wird ein Segensspruch geschrieben oder gestickt, der immer dem gleichen Schema folgt:

[Name des Kindes], Sohn des [Name des Vaters], er möge lange und gute Tage erleben, geboren unter einem guten Stern am [Geburtsdatum], er möge heranwachsen zur Tora, zur Chuppa und zu guten Werken. Amen Sela.

Damit wird ausgedrückt, dass der Junge ein religiös lebender Mensch werden soll, heiraten und eine Familie gründen möge („Chuppa“ bedeutet „Hochzeitshimmel“) und zu einem wohltätigen Menschen heranwachsen soll. Die Ornamente um den Text herum beziehen sich zum Teil auf dessen Inhalt: So kann beispielsweise eine Tora-Rolle oder Hochzeitsbaldachin abgebildet sein. Es besteht jedoch nicht immer ein Zusammenhang zwischen Text und Verzierung.

Tora-Wimpel waren für einen Zeitraum von etwa 500 Jahren in Deutschland sehr beliebt. Heute wird dieser Brauch vor allem in Gemeinden in Israel und den USA praktiziert, die stark von deutschsprachigen Zuwandernden geprägt sind.

Stickerei eines Ritters auf einem Torawimpel
Nicht immer besteht zwischen Text und Verzierung ein Bezug: Detailaufnahme einer Stickerei auf einem Tora-Wimpel des Städtischen Museums Göttingen (Inv. Nr. 2011/254), Foto: Barbara Eismann © Städtischen Museums Göttingen

In Göttingen half Mordechai W. Bernstein bei der Katalogisierung und Übersetzung von 28 Wimpeln aus der Sammlung des Städtischen Museums. Zum größten Teil waren diese Wimpel 1917 von der Gemeinde in Adelebsen erworben worden. Die textilen Wimpel sind sehr lichtempfindlich, weshalb sie nur kurze Zeit ausgestellt werden können. Im Detail können Sie die Tora-Wimpel in der Online-Sammlung des Städtischen Museums Göttingen betrachten.

Zitat in der Überschrift aus: Bernstein, Mordechai W.: Die Göttinger Tora-Wimpel. In: Purin, Bernhard/Winkler, Ayleen (Hg.): Mit Mordechai W. Bernstein durch 1700 Jahre deutsch-jüdische Geschichte. Mit Übersetzungen aus dem Jiddischen von Lilian Harlander und Lara Theobalt, S. 182-203, hier S. 182.