„Uns war bewusst, wie viel Glück wir hatten…“

Von 1933 bis 1945 wurden an den Grenzen des nationalsozialistischen Deutschen Reichs und seiner beherrschten Territorien hunderttausende Flüchtlingsschicksale entschieden. Auch aus München mussten ab 1933 tausende jüdische Bewohnerinnen und Bewohner vor antisemitischer Verfolgung fliehen. Grenzübergänge und Grenzbahnhöfe sowie exponierte Abschnitte der „grünen Grenze“ wurden zu den Brennpunkten dieser Massenfluchtbewegung. In unserer Sonderausstellung Sag Schibbolet! stehen zehn Audiostationen, die Grenzsteinen an den deutschen Außengrenzen der 1930er und 1940er Jahre nachempfunden sind. Sie stehen symbolisch für diese Fluchtbewegung und erzählen Münchner Flucht- und Grenzgeschichten der Jahre 1933 bis 1945.
HdO_Grenzsteinsetzung_Copyright_Haus_des_Deutschen_Ostens
Prof. Dr. Andreas Otto Weber und Kurator Boaz Levin mit der neuen Hörstation im Haus des Deutschen Ostens

Eine dieser Geschichten ist jene von Bertha Engelhard, deren Familie in der Zwischenkriegszeit aus Galizien nach München eingewandert war. Die Familie Engelhard war wie alle polnischen Jüdinnen und Juden im Oktober 1939 von der Abschiebung nach Polen bedroht. Tausende strandeten damals im Grenzgebiet zwischen Deutschland und Polen, weil beide Staaten sich weigerten, diese Menschen (wieder) aufzunehmen. Unter den Gestrandeten befand sich auch die Familie von Herschel Grynszpan. Viele von ihnen wurde später von den Deutschen ermordet. Die Familie Engelhard entging diesem Schicksal, weil sie noch rechtzeitig gewarnt worden war und sich der Abschiebung entziehen konnte. Im Frühjahr 1939 konnte Bertha, die damals erst 15 war, gemeinsam mit ihrem Bruder auf einem Kindertransport nach England entkommen. Ihre jüngste Schwester Inge kam auf einem späteren Transport nach. Den Eltern Moses und Rosa gelang es schließlich 1940 nach Jugoslawien zu fliehen. Ende 1943 war die Familie in England wieder vereint.

Seit Mitte Juli steht ein weiterer Grenzstein, der Bertha Engelhards Geschichte zum Sprechen bringt, im Haus des Deutschen Ostens (HDO) in München. Diese Einrichtung erinnert an die deutschsprachige Kultur Mittel- und Osteuropas. Zu dieser Kultur, die in einen multikulturellen und mehrsprachigen Raum eingebettet war, gehörten auch viele Jüdinnen und Juden, gerade aus den östlichen Gebieten der ehemaligen Österreichisch-Ungarischen Monarchie. Die „Grenzsteinsetzung“ fand im Beisein des Hausherren Prof. Dr. Andreas Otto Weber und des Kurators der Ausstellung Sag Schibbolet! Boaz Levin statt.

Im November diesen Jahres wird der Historiker Niko Hofinger in einer Kooperationsveranstaltung mit dem Jüdischen Museum die bislang unerzählte Geschichte des 1944 in München hingerichteten Grenzgängers Arthur Vogt im Haus des Deutschen Ostens vorstellen.

Von Nikolaus Hagen

Literaturhinweis: Anja Siegemund, Zur Familiengeschichte der Engelhards, in: Douglas Bokovoy/Stefan Meining (Hg.), Versagte Heimat. Jüdisches Leben in Münchens Isarvorstadt 1914–1945, München 1994, S. 311–320.