„Zur Einstimmung plötzlich Präsident…“ – Eine Lesung mit Dieter Graumann

Mit diesen Worten beginnt Dieter Graumann sein Buch „Nachgeboren - vorbelastet?“, das mehr sein soll als eine persönliche Geschichte auf dem Weg zum Präsidentenamt des Zentralrats der Juden in Deutschland. Es geht um nicht weniger als um die Zukunft des Judentums in Deutschland, wie der Untertitel weiter verrät.

Das Jüdische Museum München konnte sich letzten Dienstag daher besonders glücklich schätzen, Graumann für eine Lesung aus seinem Buch gewinnen zu können. In Zusammenarbeit mit der Literaturhandlung, der Evangelischen Stadtakademie München, B’nai B’rith sowie dem Kösel Verlag wurde der Abend zu einem Erlebnis der besonderen Art.

„Ab heute heißt du Dieter“, sagten seine Eltern an seinem ersten Schultag in Deutschland. Sie wollten nicht, dass der 1949 in Israel geborene David Graumann wegen seines Vornamens als Jude erkannt wird. David, der zwar nicht wirklich verstand wieso er auf einmal Dieter hieß, antwortete auf die Frage des Lehrers nach der Religion sofort mit „jüdisch“ und hatte sich somit schon sehr früh positioniert. Für seine Eltern, die die Schoa überlebt hatten, kam ein so offener und selbstbewusster Umgang mit ihrer Identität vorerst gar nicht in Frage. Sie hatten während der Zeit der Verfolgung schmerzhaft erfahren müssen, dass es besser war ihre jüdische Herkunft zu verstecken.

Deutschland, Frankfurt, das „immerzu gefühlte Provisorium“ wurde zu Dieter Graumanns neuer Heimat. Geprägt wurde Graumann in Frankfurt vor allem durch den späteren Zentralratsvorsitzenden Ignatz Bubis, dem er nicht nur für sich selbst eine „nachhaltige Veränderung des jüdischen Bewusstseins“ attestiert.

Als erster „Nachgeborener“ (nach der Schoa geborene) Präsident des Zentralrats will Dieter Graumann hinaus aus der „Dauermeckerecke“, in die der Zentralrat oftmals gestellt wird und einen „Akzent- und Mentalitätswechsel“ herbeiführen. Dabei will er das Judentum leben und nach außen tragen, für ihn bedeutet das: „moderner, frischer, positiver“. Obwohl die Tatsache Nachgeborener zu sein für ihn mehr eine Frage der „Arithmetik statt der Ethik“ darstellt, will auch er niemals vergessen. „Wir Kinder waren zwar nicht in der Schoa, aber die Schoa ist in uns.“ Und dennoch liegt die Akzentuierung des Judentums für ihn nicht in der Vergangenheit, sondern in „viel mehr Zukunft“.

So liest sich das Buch von Dieter Graumann nicht nur als reine Autobiographie, sondern auch als eine Geschichte der jüdischen Gemeinde in der Bundesrepublik mit all ihren unterschiedlichen Facetten und Erfahrungen. Vor allem aber ist es eine Geschichte des wiederkehrenden Selbstbewusstseins und der gelebten Integration, welche die jüdischen Gemeinden insbesondere auch nach dem Zuzug von Juden aus der ehemaligen Sowjetunion auszeichnet.

„Die jüdische Gemeinschaft verträgt und braucht ein bisschen frischen Wind“, hat Dieter Graumann an diesem Abend gesagt und wir bedanken uns herzlich, dass er dem Jüdischen Museum München bei seiner Lesung eine erweckende und muntere Brise davon mitgebracht hat.

Dieter Graumann
Nachgeboren – vorbelastet?
Die Zukunft des Judentums in Deutschland
Kösel Verlag
München 2012
ISBN: 978-3-466-37051-1

Fotos: Christian Rudnik, Fotodesign
Text: Bojidar Beremski

„Berührende Momente“ – Artikel in der Jüdischen Allgemeinen vom 17.10.2012