Von hier und dort: Arie Navons Karikaturen

1949 erscheint in München ein Buch mit Karikaturen des israelischen Künstlers Arie Navon in jiddischer Übersetzung. Seine Zeichnungen kommentieren nicht nur die politischen Ereignisse rund um die Staatsgründung, sondern geben auch einen Eindruck von der Lebenswelt jüdischer Überlebender aus Europa.
Links: Dunkelroter Buchumschlag mit jiddischem und englischem Titel in gold, rechts: Zeichnung "Tagebuch eines Immigranten" mit 8 Szenen
Links: Arie Navon „Fun do un dort / From Here and There“, München 1949; rechts: „Tagebuch eines Immigranten“, ebd., Fotos: © JMM

Arie Navon, 1909 in Dunajiwzi (heute: Ukraine) geboren, emigrierte 1920 mit seinen Eltern nach Palästina. Er absolvierte ein Kunststudium in Paris und begann seine Karriere als Maler und Karikaturist in Palästina. Navon illustrierte die Bücher zeitgenössischer hebräischer Autor*innen wie Natan Alterman, Avraham Shlonsky und Lea Goldberg. Ab Mitte der Dreißigerjahre erschienen seine Karikaturen in der Wochenzeitung „Davar“. Ab 1948 arbeitete Navon auch als Bühnenbildner für verschiedene israelische Theater. Er starb 1996 in Tel Aviv.

Die Publikation „Von hier und dort“, die 1949 von der zionistisch-sozialistischen Organisation „Poale Zion“ in München herausgegeben wurde, hatte zum Ziel, die Arbeiten Navons unter den hier lebenden Displaced Persons (DPs) bekannt zu machen. Ihr Schicksal beschäftigt den Künstler bereits unmittelbar nach Kriegsende. In seinen Zeichnungen kritisiert er die restriktive Einwanderungspolitik der britischen Mandatsregierung. Kurz vor der Veröffentlichung von „Von hier und dort“ reist Navon selbst nach Europa, um sich ein Bild von der Situation in den DP-Lagern zu machen.

Karikatur „An der Schwelle zu einer neuen Welt“. Die Zeichnung zeigt vier Erwachsene und ein Baby zwischen zwei Toren, rechts das KZ und links das DP-Lager
Text im Bild rechts: „KZ”, links: „DP-Lager”; „An der Schwelle zu einer neuen Welt”, 7. September 1945, Arie Navon in „Fun do un dort / From Here and There“, München 1949, Foto: © JMM

An der Schwelle zu einer neuen Welt

Die Karikatur „An der Schwelle zu einer neuen Welt“, die bereits im September 1945 entstand, zeigt fünf gebeugte, abgemagerte Gestalten – drei Männer und eine Frau mit Baby –, die vom Konzentrationslager direkt in ein DP-Lager hinüberwandern. Nur die Aufschrift über dem jeweiligen Tor ändert sich, nicht der Stacheldraht. Die Zeichnung bringt die Lebensrealität der Überlebenden zum Ausdruck, die aus den deutschen Konzentrationslagern befreit worden waren. In den ersten Monaten ihrer Befreiung, in denen es an allem fehlte – an Wohnraum, Lebensmitteln und Krankenversorgung – lebten die meisten von ihnen in Lagern, die provisorisch in ehemaligen Militäreinrichtungen und auch in ehemaligen Konzentrationslagern eingerichtet worden waren.

Navon übt mit seinen Karikaturen deutliche Kritik am Umgang der Regierungen mit den Überlebenden der Schoa und zeigt die Resignation jener, deren Aufbruch in eine „neue Welt“ wieder hinter Stacheldraht beginnt. In seiner Zeichnung „Tagebuch eines Immigranten“ (September 1946, siehe oben) greift Navon dieses Motiv wieder auf: Der Comicstrip zeigt in acht Szenen den Weg eines KZ-Überlebenden nach Palästina, wo er schließlich in einem britischen Internierungslager wieder hinter Stacheldraht lebt.

Von der Front

Am 14. Mai 1948 endet die britische Mandatsregierung in Palästina und David Ben-Gurion erklärt die Unabhängigkeit Israels; noch in derselben Nacht beginnt der Unabhängigkeitskrieg. Navon begleitet als offizieller Militärzeichner die israelischen Verteidigungskräfte. In seinem Zeichenzyklus „Von der Front“ hält er den Alltag der Soldat*innen und ihre Begegnungen mit der lokalen Bevölkerung fest. Wir sehen einen jungen Soldaten, der sich sprichwörtlich versucht, mit Händen und Füßen mit einem Araber zu unterhalten. Wir sehen Soldaten, die per Anhalter fahren, sich in ihren Zelten erholen und sogar in der Dusche ihre Revolver tragen.

Links: Zeichnung von zwei Männern, die sich mit Gesten unterhalten, einer von Ihnen trägt einen Turban, der andere eine Uniform; rechts: zwei Zeichnungen von Soldaten, die sich ausruhen und lesen
Links: „Eine Unterhaltung“ (Bildunterschrift: „In einer arabisch besetzten Stadt“); rechts: „Ruhende Soldaten“, Arie Navon in „Fun do un dort / From Here and There“, München 1949, Fotos: © JMM

Avons Szenen von der Front wirken heiter und sehr weit entfernt von einem tatsächlichen Krieg. Seine Figuren sind wehrhafte junge Männer und Frauen. Damit verkörpern sie das Selbstbild des jungen Staates, der in die Zukunft und nicht in die Vergangenheit blicken möchte. Und so sehen wir als letzte Zeichnung in dem Zyklus Großeltern mit ihrem Enkel vor einer Anrichte sitzen, über der zwei gekreuzte Gewehre und Fotos aus der Militärzeit der beiden hängen. Die Bildunterschrift lautet: „Siebzig Jahre später: ‚…und es war in dieser Nacht im Gefecht am Castel, als ich deine Großmutter kennenlernte.‘“

Die Karikatur zeigt ein älteres Paar mit einem kleinen Kind in einem Wohnzimmer. An der Wand hängen zwei gekreuzte Gewehre und Fotos.
„Siebzig Jahre später: ‚…und es war in dieser Nacht im Gefecht am Castel, als ich deine Großmutter kennenlernte‘“, Arie Navon in „Fun do un dort / From Here and There“, München 1949, Foto: © JMM

Zeichnungen aus dem Kibbuz

Das letzte Kapitel der Publikation „Von hier und dort“ soll – wie es im Vorwort heißt – den Leser*innen einen realistischen Eindruck vom Leben im Kibbuz und seinen täglichen Herausforderungen vermitteln. Dabei spart Navon wie in seinen Zeichnungen von der Front nicht an Humor. Dass so mancher seine Schwierigkeit hat, sich in dem neuen Leben im Kibbuz zurechtzufinden, zeigt etwa die Zeichnung „Der Pianist“, in der sich ein ehemaliger Pianist im Kuhstall vom Melkschemel an seinen Klavierhocker zurück träumt.

Ein Mann melkt eine Kuh und scheint in Gedanken versunken, er hält die Hände wie ein Pianist am Flügel
„Der Pianist“, Arie Navon in „Fun do un dort / From Here and There“, München 1949, Foto: © JMM

Vergleichen wir Navons frühe Arbeiten aus diesem Band mit seinen späteren Zeichnungen, zeigt sich eindrucksvoll, welche Transformation seine Figuren durchmachen: von den gebeugten, ihrem Schicksal ausgelieferten DPs und Immigrant*innen hin zu selbstbewussten israelischen Soldat*innen und Kibbuzniks. Doch auch wenn Navons Arbeiten in vielerlei Hinsicht dem zionistischen Zeitgeist entsprechen, geht es dem Künstler nicht darum, ein Idealbild vom Leben im jungen israelischen Staat zu zeichnen. Vielmehr stehen die Menschen, ihr Alltag und ihre ganz unterschiedlichen Erfahrungen im Vordergrund. Genau darin liegt aus heutiger Sicht die Stärke seiner Karikaturen.

Die Publikation „Von hier und dort“ wird ab dem 5. Juli in der Ausstellung „München Displaced. Der Rest der Geretteten“ zu sehen sein.