In unserer Moskauer Küche hörte mein Vater in den 70er, 80er Jahren immer hinter verschlossenen Türen diese „Stimmen des Feindes“. So wurden die nur schwer empfangbaren Radiosender jenseits des Eisernen Vorhangs von offizieller Seite genannt. Es hat mich als kleines Mädchen immer fasziniert, wie er die Antenne in die Höhe schob und das Rädchen vom Stationssucher hin und her bewegte, bis aus knisternden Geräuschen plötzlich die Stimme eines Moderators wurde. An der Art wie mein Vater ganz Ohr war und mit welcher Aufmerksamkeit er die Sendungen hörte, wusste ich, dass es sehr wichtig sein musste. Doch der Empfang war nicht lange stabil, dann kam es wieder zu den knisternden Geräuschen.
Auch Andrey S. (84), der 2005 als Kontingentflüchtling nach München kam, hörte in Kiew diese Sender und ihre Nachrichten. „Ich lag mit meinem Ohr direkt an der Radiobox. Das war für mich ein tägliches Ritual, so wie Zähne putzen“, erinnert er sich. Er weiß auch noch genau, welches Radiogerät sie damals hatten, ein Blaupunkt 6W79. Das hatte sein Onkel aus Deutschland mitgebracht. Radio-Bastler haben extra spezielle Radio-Konverter konstruiert und in die Radiogeräte eingebaut, um die „Feinde“ auch auf Kurzwelle zu empfangen. An ein besonderes Ereignis erinnert sich Andrey noch heute: Auf einer Wanderung in der ukrainischen Provinz saß er am Abend mit seinen Freunden um ein Lagerfeuer, als einer von ihnen ein japanisches Radiogerät rausholte, ein Sony. „Und wir hörten Radio Svoboda!“ [Radio Liberty] „Und nicht nur das,“ erzählt er weiter, „alles, was wir hörten, kam ganz klar und sauber, ohne Störgeräusche oder Dämpfungen. Wir waren richtig glücklich!“
Text: Marina Maisel
Die Sender Radio Free Europe und Radio Liberty sendeten von den 50er bis in die 90er Jahre in über 20 Sprachen von München aus in die kommunistischen Länder Osteuropas. Mehr dazu erfahren Sie noch bis zum 5. März 2023 in der Ausstellung „Radio Free Europe. Stimmen aus München im Kalten Krieg“ in der Galerie Einwand des Münchner Stadtmuseums mit einem Modul im Jüdischen Museum München.
Als nächstes trifft Marina Maisel die Münchner Publizistin Olga Mannheimer, deren Vater zehn Jahre lang im Literaturressort bei Radio Liberty zu hören war. Stay tuned!
Marina Maisel kam vor 20 Jahren als sogenannter Kontingent-Flüchtling aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland. Als freie Journalistin und Fotografin begleitet sie seither das jüdische Leben in München.