„Geplauder eines alten Lembergers“ – Erinnerungen an Radio Free Europe und Radio Liberty

Die Münchner Radiosender Radio Free Europe und Radio Liberty sendeten in über 20 osteuropäischen Sprachen. Unsere Gastautorin Marina Maisel trifft Münchner_innen, die besondere Erinnerungen mit den Sendern verbinden: Heute Olga Mannheimer, deren Vater bei Radio Free Europe für seinen unverkennbaren Lemberger Dialekt bekannt war.
Olga Mannheimer sitzt vor einem Kamin. Mit einer Hand hält sie zwei Bücher, auf die andere stützt sie ihren Kopf.
Olga Mannheimer, Foto: © Marina Maisel

Die Publizistin Olga Mannheimer, geboren 1959 in Warschau, lebt seit 1972 in München. Ihr Vater, Ignacy Szenfeld, war zehn Jahre lang für das Literaturressort im russischsprachigen Radio Liberty zuständig. Beim „Brudersender“ Radio Free Europe unterhielt er jede Woche die polnischsprachigen Hörer_innen mit dem „Geplauder eines alten Lembergers“. Seine Geburtsstadt, das heute zur Ukraine gehörende Lwiw, hieß in seiner Jugend Lwów und war eine vibrierende polnische Kulturstadt. „Ihre früheren, 1945 im Zuge der Zwangsumsiedlung vertriebenen Bewohner trauerten dieser Stadt mit einer durch Wehmut gesteigerten Leidenschaft nach“, berichtet Olga. „Mein Vater war mehr Schriftsteller als Journalist und somit der Alptraum aller Tontechniker. Er feilte bis zur letzten Sekunde am Sendungstext und erst wenn das rote Licht schon leuchtete, stürzte er atemlos ins Aufnahmestudio, wo ihm der Aufnahmeleiter stumm mit der Faust drohte.“ Zu dessen Verzweiflung war Szenfeld als Sprecher unersetzlich, da er als Einziger in der gesamten Redaktion den unnachahmlichen Lemberger Dialekt beherrschte.

Auf dem Tisch liegen Tonbänder und schwarz-weiß Fotos: Ignacy Szenfeld inmitten russischer Schriftsteller, mit denen er befreundet war; Olga mit dem Liedermacher Bulat Okudschawa. „Mit seiner Arbeit für diverse Exilzeitschriften hätte mein Vater die Familie nicht ernähren können. Es war ein Glück, dass er bei Radio Liberty angestellt wurde. Als polnischer Jude musste er sich dort stets beweisen – aber er hat sich in diesem Irrenhaus durchaus wohlgefühlt.“ Vergnügt erinnert sich Olga wie sie sich als Schülerin oft in die nahegelegene Senderkantine schmuggelte, am streng bewachten Eingang des Senders vorbei. Der Kalte Krieg war dort unmittelbar spürbar. Einmal deute ihr Vater auf einen Mitarbeiter: „Der steht im Dienst des KGB.“ „Warum wird hier ein Spion geduldet,“ fragte sie. „Verjagt man den einen,“ erklärte ihr Vater, „schicken sie einen anderen. Bei dem weiß man wenigstens Bescheid.“

Text: Marina Maisel

Die Sender Radio Free Europe und Radio Liberty sendeten von den 50er bis in die 90er Jahre von München aus Nachrichten, Kultur- und Sportprogramme in die kommunistischen Länder Osteuropas. Bis in die 70er Jahre von der CIA finanziert, gerieten die Sender und ihre Mitarbeitenden immer wieder ins Fadenkreuz osteuropäischer Regierungen und derer Geheimdienste. Mehr dazu erfahren Sie noch bis zum 5. März 2023 in der Ausstellung „Radio Free Europe. Stimmen aus München im Kalten Krieg“ in der Galerie Einwand des Münchner Stadtmuseums mit einem Modul im Jüdischen Museum München.

Als nächstes Treffen wir die Leiterin der Münchner Tolstoi-Bibliothek Tatjana Erschow, deren Vater Nachrichtenredakteur bei Radio Liberty war. Stay tuned!

Marina Maisel kam vor 20 Jahren als sogenannter Kontingent-Flüchtling aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland. Als freie Journalistin und Fotografin begleitet sie seither das jüdische Leben in München.