Vor einem Jahr, im Sommersemester 2016, besuchen 20 Studierende der LMU eine Übung bei Professor Michael Brenner, Lehrstuhlinhaber für Jüdische Geschichte und Kultur. Der verheißende Titel seiner Übung lautet „Jüdisches Leben in München während der 1950er und 1960er Jahre: Ein Oral History-Projekt“. Zu Deutsch: Es geht um Zeitzeugeninterviews mit jüdischen Personen der Nachkriegszeit. Interviews als geschichtswissenschaftliche Methodik sind nicht ganz unproblematisch. Diese Erfahrung macht auch Dr. Andreas Heusler (Stadtarchiv München), der selbst schon Zeitzeugeninterviews geführt hat und die Übung mitbetreut. Zum einen ist die persönliche Erinnerung eines Interviewten nicht frei von seinen Interpretationen und kann die Darstellung von Ereignissen verzerren. Zum anderen ist speziell dieses Thema sehr emotional.
Schnell ist klar: Die Studierenden diskutieren nicht nur die theoretischen Aspekte von Zeitzeugeninterviews, sondern werden selbst zu Interviewern. Auf Basis eines erarbeiteten Interviewleitfadens mit festen Themenblöcken entstehen sieben Interviews. Die Videoaufnahmen von den Gesprächen werden als Zeitzeugendokumente in die Sammlung des Stadtarchivs München aufgenommen. Dabei allein wird es nicht bleiben. Unterstützung erfährt das Projekt auch von Bernhard Purin (Jüdisches Museum München), der gemeinsam mit interessierten Studierenden eine Ausstellung zu dem Thema realisieren möchte. 13 Studierende machen mit.
Im August 2016 signalisiert auch der BR Interesse an dem Interviewmaterial und plant eine Dokumentation zum Thema. Die vorbereitenden Maßnahmen ziehen sich bis in den Januar 2017: Das Videomaterial aus den Gesprächen umfasst mehrere Stunden und muss gesichtet werden. Alle Interviews werden von den Studierenden wörtlich transkribiert – ein riesiger Berg an Material. Mittlerweile haben die Studierenden sich in zwei Gruppen geteilt. Die einen bearbeiten die Ausstellung. Die anderen arbeiten beim BR am Film mit.
Die Ausstellungsgruppe identifiziert zunächst fünf Themenbereiche: Vergangenheitsbewältigung, Religion, Freizeit, Bezug zu München und zu Israel. Die prägnantesten Ausschnitte der Interviews wurden für jedes Thema in je einem Film zusammengefasst. Zu sehen sind auch Objekte: Stellvertretend für jedes Thema und für jeden Interviewpartner eines. Die Studierenden schreiben die benötigten Ausstellungstexte. Eigens für die Ausstellung wird ein Fotoalbum gestaltet. Es veranschaulicht die Lebensläufe der Interviewten und erzählt ihre Kindheitsgeschichten anhand von Fotos. Seit dem 7. März 2017 ist die Ausstellung des Jüdischen Museum München im Studienraum zu sehen.
Zeitgleich zu den Ausstellungsarbeiten entstehen die ersten Drehbuchentwürfe für den Dokumentarfilm des BR. Am Ende fällt die Entscheidung auf drei Interviewpartner des Projekts. Aus ihrer Rückschau soll der Film von den ersten Nachkriegsjahren in Deutschland und der Vergangenheitsbewältigung ihrer Eltern berichten. Dafür braucht es auch historische Aufnahme, die in Archiven von Studierenden recherchiert werden. Weitere Drehtage werden für sogenannte Schnittbilder angesetzt. Und dann kommt der Schnitt. Die Studierenden dürfen den Profis über die Schulter schauen. Am Ende steht die fertige Dokumentation!
Einer der Studierenden, Gregor Eichfeld, resümiert schließlich: „Das vergangene Jahr war ein toller Einblick in mögliche Berufsfelder für angehende Historiker“. Alles in allem sei es ein gewinnbringender Kurs gewesen. Es wurden neue Formen der Quellenerschließung diskutiert, aber auch die Kooperation zwischen den verschiedenen Münchner Einrichtungen, insbesondere mit dem BR sei spannend gewesen.
Am Donnerstag, 6. Juli 2017 um 20:15 Uhr wird die Dokumentation „Wir sind geblieben“ ausgestrahlt, die aus diesem Projekt entstanden ist. Sie erscheint im Rahmen des Themenabends „Jüdisches Leben“ auf ARD alpha.
Heike Nickel