Mordechai W. Bernstein, Protagonist der aktuellen Wechselausstellung „Im Labyrinth der Zeiten“ im Jüdischen Museum München, hielt in drei jiddischsprachigen Bänden die Reste deutsch-jüdischer Kultur fest. Er trug damit zur Bewahrung des kulturellen jüdischen Gedächtnisses bei. Die Basis für seine Bücher war seine Arbeit für die Jewish Cultural Reconstruction, Inc. (JCR), eine jüdische Nachfolgeorganisation. Bereits in der unmittelbaren Nachkriegszeit versuchten solche Organisationen, NS-verfolgungsbedingt entzogene Kulturgüter aufzuspüren, ihre Eigentümer_innen zu ermitteln, und die Objekte zu restituieren. Wo dies nicht mehr möglich war, wurden sie in jüdischen Gemeinden und Institutionen außerhalb Deutschlands untergebracht.
Geschäftsführerin der JCR war die politische Theoretikerin und Publizistin Hannah Arendt, mit der auch Bernstein zusammenarbeitete. Der großen Denkerin widmete das Deutsche Historische Museum in Berlin die Ausstellung „Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert“. Nachdem die Ausstellung zuletzt in der Bundeskunsthalle in Bonn zu sehen war, kommt sie nun ins Literaturhaus München. Wir haben die Gelegenheit genutzt uns mit der Kuratorin der Ausstellung, Monika Boll, über Hannah Arendt und ihre Arbeit für die Nachfolgeorganisation zu unterhalten.
JMM: Wie kam es dazu, dass Arendt in der JCR tätig wurde?
MB: Wir haben Arendts Arbeit für die JCR in der Ausstellung thematisiert, weil sie für ein breiteres Publikum ein eher unbekanntes Kapitel ihres Lebens ist. Arendt arbeitete von 1949 bis 1952 als Geschäftsführerin der JCR in New York unter der Leitung des Rabbiners und Historikers Salo Baron. Baron, 1895 in Tarnów geboren, war bereits 1926 in die USA gekommen. Arendt hatte sich kurz nach ihrer Ankunft in New York 1941 an Baron gewandt, da dieser als Kontaktadresse für Jüdinnen und Juden aus Europa galt. Sie hatte dann zunächst für die von ihm mitherausgegebene Zeitschrift „Jewish Social Studies“ Beiträge geschrieben, später dann auch für eine ebenfalls von ihm gegründete Vorgängerorganisation der JCR gearbeitet. Arendt und Baron blieben auch später Freunde. 1965 schrieb sie ihm: “You were without doubt the best ‚boss’ I ever had”. Als Arendt am 4. Dezember 1975 in ihrer Wohnung einen plötzlichen Herztod starb, waren Salo Baron und seine Frau Jeanette zu Gast bei ihr.
JMM: Was genau waren Arendts Aufgaben in der JCR?
MB: Aufgabe der JCR war es, von den Nazis geraubtes jüdisches Kulturgut ausfindig zu machen und in die USA und nach Israel zu überführen. Arendt erstellte Listen geraubter Bücher und führte Verhandlungen mit den Institutionen vor Ort über deren Rückgabe. Sie betrieb sozusagen schon früh Provenienzforschung. Sie arbeitete dazu eng mit dem seit Anfang der 1920er Jahre in Palästina lebenden Religionsphilosophen Gershom Scholem zusammen. Scholem war nach dem Krieg eine Zeit lang in der Sammelstelle der U.S. Army für geraubte Bücher in Offenbach stationiert. Gemeinsam bemühten sie sich etwa darum, die Privatbibliothek des Philosophen Hermann Cohen an die Universitätsbibliothek in Jerusalem zu überführen. In der Ausstellung zeigen wir einen Brief vom September 1949. Darin berichtete Arendt von den Vorbereitungen dazu. Sie beklagte die mangelnde Kooperation deutscher Bibliotheken, die ihrer Meldepflicht von jüdischem Eigentum nicht nachkommen. Im Briefwechsel zwischen Arendt und Scholem findet sich gelegentlich auch Mordechai W. Bernstein erwähnt, der zu dieser Zeit ebenfalls mit der JCR zusammenarbeitete.
In der Ausstellung zeigen wir auch eines der Bücher aus Cohens Privatbibliothek. Das Buch ist deshalb so interessant, weil hier eine ganze Provenienzgeschichte nachvollziehbar wird. Es enthält das JCR-Einlegeblatt, außerdem den Stempel der Israelitischen Gemeinde Frankfurt a. M., die Erbin der Bibliothek gewesen war. Und dann findet sich darin noch ein Stempel des Sicherheitsdienstes des Reichsführers SS. Das Buch war während des Novemberpogroms 1938 von den Nationalsozialisten in Frankfurt konfisziert worden. Nach dem Krieg gelangte es zunächst in die Sammelstelle in Offenbach und von dort dann durch die Recherchen von Arendt und Scholem nach Israel.
JMM: Hat die Arbeit in der JCR Arendts politisches und philosophisches Denken beeinflusst?
MB: Unmittelbar beeinflusst hatte die praktische Arbeit ihren Essay »Die Nachwirkungen des Naziregimes – Bericht aus Deutschland«. Arendts Tätigkeit für die JCR war zugleich der Grund für ihre erste Reise nach dem Krieg nach Deutschland 1949/50, weil sie vor Ort Verhandlungen mit Bibliotheks- und Museumsleitern über zu Unrecht in ihren Besitz gelangte jüdische Kulturgüter führte. Die Verhandlungen fanden in vielen Städten statt, darunter Frankfurt am Main, Wiesbaden, Bonn, Heidelberg, Nürnberg, München und Berlin. Ihre Eindrücke fasste Arendt dann in dem genannten Bericht zusammen. Darin zeichnete sie ein scharfes Profil der Wiederaufbaugesellschaft, deren Geschäftigkeit und blinde Arbeitswut sie als Formen der Verdrängung und Leugnung beschrieb. 1950 erschien der Bericht zunächst in der amerikanischen Zeitschrift Commentary. Er wurde von vielen Emigranten gelesen, darunter auch von Thomas Mann. In einem Leserbrief lobte er Arendts Beitrag als ein klares und präzises Bild des gegenwärtigen Deutschlands, der Bericht sei außerdem herausragende Literatur.
JMM: Hat die Arbeit in der JCR die Arbeit an „Elemente und Ursprünge“ beeinflusst?
MB: In ihrer Totalitarismusstudie findet sich meines Wissens kein direkter Verweis dazu. Aber die Erkenntnisse, die sie bei der JCR sammelte, dürfte ihre Beschreibung der systematischen Entrechtung und Beraubung von Menschen als einem Element totaler Herrschaft beeinflusst haben.
JMM: Welche Rolle spielte Arendts jüdische Identität in ihrer Arbeit für die JCR?
MB: Mal davon abgesehen, dass sie als mittellose Emigrantin das Einkommen für eine kleine Familie, bestehend aus ihrer Mutter Martha und ihrem zweiten Ehemann Heinrich Blücher, verdienen musste, wollte sie nicht nur publizistisch, sondern auch ganz praktisch in jüdischen Belangen tätig sein. Ich denke, diese Tätigkeit verschaffte ihr eine ähnliche Befriedung wie ihre Arbeit für die Jugend-Alijah in Paris 1935, von der sie im berühmten Fernsehinterview mit Günter Gaus sagte: „Ich wollte in die praktische Arbeit und ich wollte nur in die jüdische Arbeit.“ Arendt half in Paris dabei, jüdische Jugendliche in Palästina unterzubringen. Sie hatte für die Ausrüstung, für die notwendigen Papiere, oft auch für finanzielle Unterstützung der Jugendlichen zu sorgen. Im Rahmen dieser Arbeit reiste sie auch selbst erstmals nach Palästina. In dem Interview mit Gaus kommentierte sie ihren Einsatz mit dem später oft zitierten Satz: „Wenn man als Jude angegriffen ist, muss man sich als Jude verteidigen.“
Was die konkrete Arbeit für die JCR betraf, so waren sich Arendt und Scholem, anders als in Fragen des Zionismus oder später ihres Eichmannbuches, hier einmal völlig einig. Für beide ging es bei der Rettung jüdischer Schriften um die Bewahrung des kulturellen jüdischen Gedächtnisses für die Zukunft.
Die Ausstellung „‚Das Wagnis der Öffentlichkeit.‘ Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert“ ist vom 15.10.2021 bis zum 24.04.2022 im Literaturhaus München zu sehen.