Heidi, Tochter der Alpen

Heidis Welt sind die Berge ― und diese sind weltweit zum Sehnsuchtsort für unzählige junge Leserinnen und Leser geworden. Mit geschätzten 60 Millionen verkauften Exemplaren und in über 70 Sprachen übersetzt, zählt die Geschichte zu den bekanntesten der Welt und gehört auch in Israel seit über 70 Jahren zum Kanon der Kinderliteratur. Als «Heidi Bat HeHarim» [Heidi, Tochter der Berge] ist das Alpenmädchen dort als Romanfigur, auf der Theaterbühne, in Film und Fernsehen bekannt.
Buchcover mit hebräischer Schrift und bunter Illustration: Alpenlandschaft mit Bergen und Sonnenuntergang. Heidi steht im Vordergrund und schaut in Richtung einer Alm mit Holzhütte, drei Tannen und Zaun. Sie hält einen Blumenstrauß und einen Beutel. Sie trägt eine weiß-blau-schwarze Tracht mit roter Schürze und ihr blondes Haar in zwei Zöpfen geflochten.
Johanna Spyri: «Heidi Bat HeHarim» [Heidi, Tochter der Berge], Illustration: Arie Moskowitsch, Tel Aviv 1957/58

Von Nurit Blatman

Mit den beiden Romanteilen «Heidis Lehr- und Wanderjahre» und «Heidi kann brauchen, was es gelernt hat» (1880 und 1881) verfasste die Schweizer Autorin Johanna Spyri den letzten großen Heimat- und Heimwehroman Europas, der weltweit die Jugenderinnerungen unzähliger Menschen geprägt hat. Auch in Palästina und später in Israel fand Heidi ihre «Bühne».

1946 kommt die erste hebräische Übersetzung von «Heidi» auf den Markt. Die Themen, die im Roman zur Sprache kommen, spielen zu jener Zeit in der jüdischen Geschichte eine besondere Rolle. Gerade mal ein Jahr nach Ende des Zweiten Weltkrieges, sowie zwei Jahre vor der Staatsgründung, sind die Themen Heimat, Heimatverlust und Neubeginn, wie auch die Waisenkinderfahrung für viele Leserinnen und Leser von großer emotionaler Bedeutung.

Vitrine mit zwei Büchern, eines davon aufgeschlagen, und einer Fotografie sowie Beschriftung. Auf dem rechten Buch ist der hebräische Buchtitel zu erkennen und eine einfache Zeichnung von Heidi neben einem Gamsbock. Das linke Buch ist aufgeschlagen. Links oben auf dem Titelblatt ist eine kleine handschriftliche Notiz zu erkennen.
Hebräische Erstausgabe mit Widmung von Max Brod, «Heidi Bat HaAlpim» [Heidi, Tochter der Alpen], Tel Aviv 1946, Foto: © Eva Jünger

Zu jener Zeit fliehen viele deutschsprachige Jüdinnen und Juden aus Europa nach Palästina und versuchen, dort ein neues Leben zu beginnen. Gleichzeitig empfinden viele noch ein starkes Verbundenheitsgefühl zur zurückgelassenen deutschsprachigen Kultur. Übersetzer Israel Fishman nennt das Buch «Heidi Bat HaAlpim» [Heidi, Tochter der Alpen] und scheint sich damit an sein zeitgenössisches Lesepublikum zu richten. Die «Alpen» im Titel sprechen diese Sehnsucht nach der verlorenen Heimat direkt an.

Diese Spannungen zwischen dem rückgewandten Blick zur alten Heimat, sowie den Bestrebungen des Neubeginns spiegeln sich in der hebräischen «Heidi»-Übersetzung wider. Die Geschichte findet im europäischen Kulturraum statt und repräsentierte so ein Stück Identität, die einem genommen wurde. Gleichzeitig konnte die hebräische Übersetzung des Romans eine Hilfestellung sein, sich über einen bekannten Stoff der neuen Sprache anzunähern. Das Erlernen der neuhebräischen Sprache spielte beim Aufbau einer eigenständigen kulturellen Identität im damaligen Palästina und späteren Israel eine wichtige Rolle. Heidis Geschichte in den Alpen, einer vertrauten Kulturregion, wird dadurch auch Teil des Neubeginns in Palästina/Israel, der fest mit dem Hebräisch-Lernen verbunden ist. «Heidi» steht damit für die neue und alte Heimat zugleich.

Auf dem Plakat, das auf einem Banner in der Ausstellung hängt, ist ein gezeichnetes Mädchen zu erkennen, das einem Mann ein hebräisches Buch hinhält.
Ausstellungsansicht mit Plakat «Für dich und dein Kind, lerne Hebräisch» (Israel um 1955), Foto: © Eva Jünger

In den 1950er Jahre kommen parallel zu Neuauflagen der Erstübersetzung weitere, kürzere Adaptionen der Geschichte auf den Markt. Diese Kurzfassungen tragen einen anderen, leicht veränderten Titel: Anstelle von «Heidi Bat HaAlpim» [Heidi, Tochter der Alpen], heißen die folgenden Bücher nun «Heidi Bat HeHarim» [Heidi, Tochter der Berge]. Aus den spezifisch europäischen „Alpen“ werden nun allgemeine „Berge“. Diese neuen Übersetzungen sind für ein junges Lesepublikum geschrieben, das in Israel geboren wurde und nicht mehr denselben emotionalen Bezug zu den Alpen hat. Die kleine Änderung im Titel spiegelt die Entwicklung der israelischen Gesellschaft und die Bildung einer eigenständigen, israelischen Identität wider.

Auch die Sprache entwickelt sich im jungen Staat Israel schnell weiter, was in neuen «Heidi»-Übersetzungen resultiert. Von längeren Ausgaben bis zu einer Vielzahl von Kurzfassungen lassen sich bis heute über 30 verschiedene hebräische «Heidi»-Adaptionen und Übersetzungen finden. Medial ist «Heidi» vielfältig vertreten. Zuerst auf Schallplatte, gibt es im Laufe der Zeit die Geschichte auf Kassette, später auf CD und schlussendlich online als Stream zu hören. Auch auf der Bühne macht sich «Heidi Bat HeHarim» einen Namen. Ihr Bühnendebüt feiert «Heidi» bereits 1956, in den folgenden Jahrzehnten ist «Heidi» regelmässig auf der Bühne vertreten, mit der neuesten Aufführung im Jahr 2021.

Blick in die Ausstellung. In den Vitrinen liegen verschiedene bunte Heidi-Adaptionen.
Verschiedene «Heidi»-Adaptionen auf Schallplatte, Kassette, CD und DVD, Foto: © Eva Jünger

Heute ist «Heidi» vom israelischen Film- und Literaturkanon nicht mehr wegzudenken. Auf Social Media-Plattformen, wie Facebook oder Instagram, wo sich Nutzerinnen und Nutzer als Heidi inszenieren oder die Thematik assoziativ aufgreifen, wird die Bezeichnung «Heidi Bat HeHarim» [«Heidi, Tochter der Berge»] als Beschreibung oder Kommentar gerne genutzt. In all ihren Spielarten und Facetten ist die «Tochter der Berge» im kulturellen Gedächtnis heute in Israel tief verwurzelt und bleibt dank der vielfältigen Rezeption stets aktuell. Die neueste hebräische Übersetzung von Hanna Livnat aus dem Jahr 2020 schreibt diese Erfolgsgeschichte fort.

Die Ausstellung „Heidi in Israel. Eine Spurensuche“ ist bis zum 16. Oktober 2022 im Jüdischen Museum München zu sehen. Weitere Informationen dazu auf unserer Website.