Von Nurit Blatman
Die Autorin der «Heidi»-Geschichte Johanna Spyri wurde im christlichen Glauben erzogen. Ihre Mutter war eine strenggläubige Pietistin und Verfasserin religiöser Lieder. Der pietistische, tief fromme Glaube lässt sich auch in Spyris Werken erkennen. In «Heidi» lassen sich verschiedene christliche Elemente finden.
Als Heidi nach Frankfurt geht, wird ihr dort nicht nur das Lesen, sondern auch das Beten beigebracht. Im täglichen Abendgebet vor dem zu Bett gehen bittet Heidi darum, wieder zurück nach Hause zu ihrem Großvater zurückkehren zu können. Wieder zurück auf der Alp, liest sie Peters blinden Großmutter christliche Gedichte aus einem alten Liederbuch vor.
Die «Heidi»-Geschichte ist oft gekürzt als kleines Büchlein herausgegeben worden – dies ist sowohl in Israel wie auch auf internationaler Ebene oft der Fall. Wird die Geschichte auf bloß wenigen Seiten präsentiert, so muss einiges weggelassen werden. Hierbei ist es oft der religiöse Aspekt, der als erstes wegfällt. Spannend wird es, wenn wir uns die längeren Übersetzungen des Romans im Hebräischen anschauen und wie dort mit diesem Aspekt der Geschichte umgegangen worden ist.
«Gleichnis des verlorenen Sohnes»
Als Heidi zurück in den Bergen ist, unterhält sie sich mit dem Großvater über das «Gleichnis des verlorenen Sohnes», einer bekannten Geschichte aus dem Neuen Testament. Der Großvater, der zurück zur Glaubensgemeinschaft im Dörfli sowie zum Glauben findet, wird mit dieser Geschichte in Verbindung gebracht. In der hebräischen Übersetzung wird aus dem neutestamentarischen «Gleichnis», das als eines von drei Gleichnissen mit verwandten Themen im Lukasevangelium zu finden ist, eine «Geschichte eines verlorenen Sohnes». Die Geschichte ist in einigen hebräischen Übersetzungen zu finden, jedoch wird das Gespräch zum Teil abgebrochen mit dem Hinweis, dass «weiter diskutiert wurde». Auch wird in einigen Übersetzungen aus dem «toten Sohn, der wieder lebendig wurde» der «tot geglaubte Sohn, der wieder zum Vater gefunden hat». So wird die Geschichte im Hebräischen zwar erwähnt, jedoch als Erzählung mit einem abgeschwächten christlichen Charakter.
Der christliche Blick in «Heidi» ist aus Kinderaugen geschrieben
Spyris christliche Elemente im Roman sind von einem kindlichen Gottverständnis aus beschrieben. Sie schreibt vom «lieben Gott», man betet zum «lieben Gott», der einem hilft und beiseite steht. Diese eher «allgemein-abendländische» Beschreibung Gottes verzichtet auf spezifisch christliche Worte wie «Christus» und erwähnt auch die Dreifaltigkeit nicht, so dass sich vieles sehr leicht für jüdische Kinder übersetzen liess, ohne dass dabei etwas abgeändert werden musste. Auch im Judentum ist der Sprachgebrauch vom «lieben Gott» geläufig, zu dem man betet und der deine Gebete erhört. Die Idee, dass Kinder vor dem zu Bett gehen ein Gebet sprechen, ist ebenso im Judentum bekannt, weshalb sich Heidis tägliches Abendgebet sehr leicht ins Hebräische übersetzen ließ.
Sonntag, der Ruhetag
In Israel gehört der Sonntag nicht zum Wochenende, sondern ist der Beginn der neuen Arbeitswoche, statt des Montags. Der Ruhetag ist der Samstag, der «Shabbat». Wenn es also bei Spyri heißt, der Großvater mache am Sonnabend (Samstagabend) «alles sauber für den Sonntag», dann gibt es verschiedene Möglichkeiten, dies ins Hebräische zu übertragen. Die einen schreiben eine Erläuterung zum Sonntag hin, dass dieser eben «der Ruhetag» sei, um die Vorbereitungen für diesen Tag verständlicher zu machen. Andere schreiben vom «siebten Tag der Woche», um auf die Besonderheit dieses Tages als Ruhe- und Festtag aufmerksam zu machen. In anderen Übersetzungen wird der Sonntag einfach so belassen und übersetzt, wiederum andere lassen den Sonntag und diese Passagen komplett aus.
Die Kirche im Dorf
So findet man verschiedene Wege in den Übersetzungen, wie mit den christlichen Elementen umgegangen werden kann. Während innerhalb des Textes die christlichen Elemente teilweise abgeschwächt, teilweise mit Erklärungen ergänzt werden, so bleiben sie auf der Bildebene bestehen: In der Erstausgabe von 1946 bildet der Illustrator skizzenhaft ein Schweizer Dorf ab. Hierbei zeichnet er eine große Tanne, dahinter liegen einige kleine Häuser und – ein Kirchturm. Die Kirche scheint also stark mit dem Schweizer Leben in den Bergen assoziiert zu werden und gehört fest zu Heidis Welt dazu – ist diese Abbildung doch gleich auf der Titelseite des Buches zu finden. Gemeinsam mit Tannen, hohen Bergen und zwei Frauenfiguren (Heidi und ihre Tante Dete) sind diese Elemente der erste Kontakt mit der Geschichte. Mit ihnen wurden die Leserinnen und Leser der Erstausgabe von 1946 in «Heidi» und ihre Welt eingeführt.