Tagung: Das Osteuropäische München in der Nachkriegszeit und im Kalten Krieg

Vom 5. bis 7. Oktober luden der Lehrstuhl für Geschichte Ost- und Südosteuropas der LMU München, das Münchner Stadtmuseum und das Jüdische Museum München zu der Tagung „Das Osteuropäische München in der Nachkriegszeit und im Kalten Krieg“. Im Zentrum standen aktuelle Forschungsprojekte, die die Migration aus Osteuropa als integralen Teil der Münchner Stadtgeschichte untersuchen.
Schwarz-Weiß-Foto: Eine Frau mittleren Alters blättert in einer Ungarischen Zeitung. Dahinter sind Zeitungshalter mit weiteren osteuropäischen Zeitungen zu sehen.
Exilzeitungen für politische Emigranten in der BRD, Foto: Fritz Neuwirth/Süddeutsche Zeitung Photo

Nach Ende des Zweiten Weltkriegs wurde München zum Zentrum der ost- und südosteuropäischen Migration. Innerhalb von wenigen Jahren kamen in der bayerischen Landeshauptstadt verschiedenste Gruppen und Nationalitäten zusammen: Als sogenannte Displaced Persons (DPs) registrierten die amerikanischen Behörden befreite KZ-Häftlinge, Zwangsarbeiter_innen, Überlebende der Schoa und ehemalige Kriegsgefangene. Dazu kamen Menschen, die vor Pogromen in ihren osteuropäischen Heimatländern flohen und antikommunistische Exilant_innen. Für viele war München nur Durchgangsstation. Es entstanden aber auch Netzwerke und Institutionen, die bis heute wichtige Verbindungen zwischen München und den Ländern Ost- und Mitteleuropas herstellen. Im Rahmen der Tagung stellten 18 Referent_innen aus Deutschland, Polen und den USA aktuelle Forschungsthemen auf diesem Gebiet vor.

Building a Nation: Ukrainische DPs in München

In ihrer Keynote Lecture stellte Kateryna Kobchenko (Münster) am Beispiel ukrainischer Displaced Persons die DP-Zeit als Kapitel der transnationalen Geschichte Europas vor. Ihr Vortrag veranschaulichte, wie nationale Konflikte, allem voran der Kampf um die politische und kulturelle Souveränität der Ukraine, auch in München und den umliegenden DP-Camps verhandelt wurden. Rund ein Drittel der ukrainischen DPs war vor der sowjetischen Besetzung in die amerikanische Besatzungszone geflohen, wo sie von den amerikanischen Behörden zunächst nicht als eigenständige Gruppe anerkannt wurde. Erst später wurden eigene ukrainische Lager eingerichtet. Von hier gingen wichtige kulturelle und erinnerungspolitische Impulse aus. So protestierten ukrainische DPs 1948 in München gegen den Terror in der UdSSR und erinnerten an die Opfer des Holodomor. 1947 veröffentlichten ukrainische DPs die erste Übersetzung von George Orwells „Animal Farm“ unter dem ukrainischen Titel „Колгосп тварин“ (de.: „Die Kolchose der Tiere“). Wie auch Maria Kovalchuk (München) in ihrem Vortrag am Beispiel von ukrainischen Jugendgruppen und anderen zum Teil noch heute aktiven Organisationen verdeutlichte, legten ukrainische DPs wichtige Grundsteine für den kulturellen Neubeginn nach der ukrainischen Unabhängigkeit. Auch die Ukrainische Freie Universität, ab 1945 mit Sitz in München, hatte, wie Peter Hilkes (München) aufzeigte, ihren Anteil daran. Hannah Maischein (Münchner Stadtmuseum) brachte den Begriff des nation building ein, das sich im Falle von DP-Communitys außerhalb oder unabhängig einer bestehenden Nation abspielt; Paula Oppermann (München) sprach in ihrem Beitrag zu lettischen Exilant_innen von einer imagined community.

Leben im Wartesaal oder Teil der Stadtgesellschaft?

Innerhalb der jüdischen DP-Community spielten sich ähnliche Prozesse ab. Die Bildungsarbeit in den Lagern zielte auf die Emigration nach Palästina/Israel. So standen der Hebräisch-Unterricht und das Erlernen landwirtschaftlicher und handwerklich-technischer Berufe im Vordergrund. Gleichzeitig wurden die jüdischen DP-Camps für kurze Zeit zu kulturellen, politischen und religiösen Zentren. Es wurden Zeitschriften, Literatur und wissenschaftliche Arbeiten auf Jiddisch veröffentlicht; 1948 stellten Künstler_innen der „Sche’erit Hapleta“, der „Gerettete Rest“, wie sich die Überlebenden selbst nannten, ihre Werke im Münchner Lenbachhaus aus. Während ein Großteil der DPs auf ihre Ausreise wartete, schufen sich andere eine dauerhafte Existenz in München. Anna Holian (Arizona) ging in ihrem Beitrag auf die Rolle der Möhlstraße in Bogenhausen ein, die in der Nachkriegszeit zum Zentrum jüdischen Geschäftslebens und für viele zum Ort des Neubeginns wurde. Katarzyna Person (Warschau) sprach in ihrem Vortrag über sogenannte Ehrengerichte in jüdischen DP-Camps. Gemeinsam mit Juliane Wetzel (Berlin) diskutierten die Referentinnen des Panels über die Rolle jüdischer DPs innerhalb der Münchner Stadtgesellschaft. Beziehungsgeschichtliche Zugänge sowie Methoden der Neighbourhood Studies können hierzu wichtige Impulse geben. Das zeigten auch die Vorträge zu Orten der Migrationsgeschichte von Christian Höschler (Bad Arolsen) und Piritta Kleiner (Friedland) zum IRO Children‘s Village Bad Aibling und zum Bundesauswandererlager München-Karlsfeld.

Quellen der Münchner DP-Geschichte

Im Panel zu Quellen der DP-Geschichte gingen die Referent_innen der Frage nach, warum die Münchner DP-Geschichte trotz guter Quellenlage bislang nur wenig erforscht ist. Andreas Heusler (Münchner Stadtarchiv) sprach in seinem Vortrag von einem Ausschluss aus dem kollektiven Gedächtnis. Dabei sind umfangreiche Quellen zur DP-Geschichte überliefert: Das zeigten unter anderem der Vortrag zu DP-Publikationen von Gudrun Wirtz (Bayerische Staatsbibliothek) sowie Axel Doßmanns (Berlin/Jena) Ausführungen zum Audio-Archiv des amerikanischen Psychologen David P. Boders, der im Sommer 1946 auch DPs in München interviewte. Vitalij Fastovskij (Münster) machte auf die Archivbestände der Tolstoy Foundation aufmerksam. Einen Grund für das jahrzehntelange Ausbleiben wissenschaftlicher Aufarbeitung sehen die Referent_innen im Fehlen der DPs im kollektiven Gedächtnis. Obwohl DPs zeitweise bis zu einem Drittel der Münchner Bevölkerung ausmachten, kommen sie in Erzählungen rund um Wiederaufbau und Wirtschaftswunder oft nicht vor. Das Jüdische Museum München, das sich bereits 2011 in der Ausstellung „Von da und dort – Überlebende aus Osteuropa“ umfassend mit dem ehemaligen DP-Lager Föhrenwald auseinandersetze, und das seit seiner Gründung ein Kommunikationsort für ehemalige DPs und deren Nachfahren ist, und das Münchner Stadtmuseum, das seit 2015 gemeinsam mit dem Münchner Stadtarchiv im Projekt „Migration bewegt die Stadt“ zur Münchner Migrationsgeschichte forscht, treten dieser Leerstelle aktiv entgegen. In ihrem gemeinsamen Beitrag gaben die Kuratorinnen Hannah Maischein (Münchner Stadtmuseum) und Jutta Fleckenstein (Jüdisches Museum München, vertreten durch Ulrike Heikaus) Einblicke in ihre museale Arbeit.

München und der Kalte Krieg

Mit dem Fokus auf München als einem Schauplatz des Kalten Krieges nahm die Tagung ein heute wenig bekanntes Kapitel der Münchner Stadtgeschichte in den Fokus. Einen Rahmen bildete die Beschäftigung mit den amerikanischen Radiosendern Radio Free Europe (RFE) und Radio Liberty, die ab den 1950er Jahren von München aus Nachrichten, Sport- und Kulturprogramme in die kommunistischen Länder Mittel- und Osteuropas sendeten und so einen Beitrag zur psychologischen Kriegsführung der USA gegen den Kommunismus leisteten. Die Teilnehmenden der Tagung besuchten die Wechselausstellung „Radio Free Europe. Stimmen aus München im Kalten Krieg“ in der Galerie Einwand im Münchner Stadtmuseum mit einem Modul im Jüdischen Museum München sowie das ehemalige Gebäude der Sender in der Oettingenstraße (heute LMU). Dort präsentierten Studierende des Elitestudienganges Osteuropastudien an der LMU den digitalen Audioguide „Kalter Krieg: Tatort München“ zu Mordanschlägen osteuropäischer Geheimdienste auf Exilant_innen in München. Das RFE-Gebäude wurde 1981 Ziel eines Bombenanschlages, bei dem acht Menschen verletzt wurden. Mit den politischen Hintergründen beschäftigte sich Anna Bischof (München) in ihrem Beitrag.

Collage: links, im Boden vor dem Gebäude eingelassene Bronzetafel mit Erinnerung an die Radiosender RFE und Radio Liberty; rechts, Personen stehen im Innenhof des Gebäudes
Erinnerungsplakette vor dem ehemaligen Sendergebäude und Teilnehmende der Tagung am Ort des Bombenanschlags 1981, Fotos: JMM

Ausblick

Die Tagung in Zusammenarbeit mit dem Lehrstuhl für Geschichte Ost- und Südosteuropas sowie die aktuelle Wechselausstellung „Radio Free Europe. Stimmen aus München im Kalten Krieg“ sind Teil eines gemeinsamen Ausstellungs- und Sammlungsprojekts des Münchner Stadtmuseums und des Jüdischen Museums München zur „Nachkriegszeit und Migration in München“. 2023 folgen eine Wechselausstellung zu jüdischen Displaced Persons im Jüdischen Museum München und ein Beitrag zu nicht-jüdischen Displaced Persons im Münchner Stadtmuseum.

Alle Abstracts der Tagung finden Sie auf der Website des Lehrstuhls für Geschichte Ost- und Südosteuropas.