Von Nurit Blatman
Johanna Spyris Roman ist geprägt von Heimatverlust und Neubeginn, von der Geschichte über ein Waisenkind und der Suche nach einer neuen Familie. 1946 wird der Roman erstmals ins Hebräische übersetzt. Gerade mal ein Jahr nach Ende des Zweiten Weltkrieges, sowie zwei Jahre vor der Staatsgründung Israels, sind diese Themen für viele Leserinnen und Leser von großer emotionaler Bedeutung. Zu jener Zeit fliehen viele deutschsprachige Jüdinnen und Juden aus Europa nach Palästina und versuchen, dort ein neues Leben zu beginnen. Gleichzeitig fühlen sich jedoch viele noch fest mit der deutschsprachigen Kultur verbunden. «Heidi» thematisiert die Themen von Heimatverlust und Neubeginn und ist dabei für viele selbst stellvertretend für ein Stück verlorene Heimat. Von den Schweizer Alpen bis nach Frankfurt – Johanna Spyris Geschichte findet im europäischen Kulturraum statt und repräsentiert so ein Stück Identität, die vielen aufgrund der Schoa genommen wurde.
Heidi, ein Waisenkind
Heidi ist bekanntlich ein Waisenkind. Sie hat beide Eltern im ersten Lebensjahr durch ein Unglück verloren und wächst zunächst ohne familiäre Zuwendung auf. Sie wird als Kleinkind mehrmals «herumgereicht», bevor sie als Fünfjährige zu ihrem Großvater auf die Alp kommt. Was einem beim Lesen erstmals nicht bewusst ist: Autorin Johanna Spyri verwendet in ihrem Roman den Begriff «Waise» nie direkt, Heidis Lage wird immer nur umschrieben. In den hebräischen Übersetzungen taucht hingegen das hebräische Wort für «Waisenkind» («Yetoma») regelmäßig auf. Heidi wird explizit als «arme» oder «kleine Waise» bezeichnet. Besonders in Rezensionen, sei es zu neuen «Heidi»-Übersetzungen, Filmen oder Theaterstücken, ist regelmäßig vom «Waisenkind» zu lesen.
Zwar ist Heidi Waise, jedoch zeichnet sie Spyri in ihrem Roman nie als einsam oder allein. Sie hat keine Eltern mehr, bekommt im Laufe des Romans jedoch eine Ersatzfamilie in Form verschiedener Menschen, die sich liebevoll um sie kümmern und die auch Heidi liebgewinnt. Vom Alpöhi und dem Geissenpeter über Klara und Frau Sesemann bis zu Peters Großmutter – Heidi hat die Fähigkeit, viele neue Menschen in ihr Herz zu schließen. Diese in der Figur «Heidi» angelegte Offenheit und Neugierde spielen in den unmittelbaren Nachkriegsjahren für die junge israelische Gesellschaft eine wichtige Rolle. Zu jener Zeit kommen Überlebende der Schoa nach Palästina, darunter viele Waisenkinder, deren Angehörige ermordet wurden. Sie werden meist in den Kibbutz oder Jugenddörfern untergebracht, wo sie eine neue Art von Gemeinschaft und Familie finden.
Der Roman und seine Hauptfigur zeigen auf, dass Heidi trotz dem Verlust ihrer Familie ihr frohes Wesen nie verliert. Dadurch wurde sie zu einem positiven Vorbild, mit dem sich die junge Leserschaft identifizieren konnte. Trotz ihres Waisenkind-Daseins findet sie eine neue Familie und eine neue Heimat – wie sie viele in Palästina fanden oder damals noch hofften zu finden.
Heidi und die Natur
Ein weiterer relevanter und höchst präsenter Aspekt des Buches ist das Leben in der Natur. In der Zeit rund um die Staatsgründung spielen Natur und landwirtschaftliche Arbeit eine identitätsstiftende Rolle. Idealisiert wird insbesondere das Gemeinschaftsleben im Kibbutz, das als die wünschenswertere Alternative zum «Leben in der Stadt» dargestellt wird. Heidi schließt sich dieser Einstellung gegenüber dem urbanen Leben an. Im «grauen Frankfurt» geht es ihr schlecht – erst zurück auf der ländlichen Alp und in der Natur findet sie ihr Glück. Von der israelischen Literaturkritik wird «Heidi» als eine «Ode an die Freuden des einfachen Lebens» beschrieben. Heidis Freude an der Natur und am Leben im kleinen Dorf entsprach der Vorstellung des ländlichen Kibbutz-Lebens und damit einem Ideal, das auch oft über die Kinderliteratur anzutreffen war.
Heidi auf Hebräisch
Das Erlernen der hebräischen Sprache gehörte zum integrativen Programm der neuen israelischen Gesellschaft. Hierbei war die Kinder- und Jugendliteratur von besonderer Bedeutung. Im Laufe des 20. Jahrhunderts entstanden viele neue Gedichte und Geschichten auf Hebräisch, parallel wurde auch viel übersetzt. Dabei wurde ein besonderer Fokus auf die Übersetzungen sogenannter «Klassiker» der Literatur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts gelegt, um sich einem europäisch geprägten Literaturkanon anzunähern. Da gehörte «Heidi» auch klar dazu. Als Buch, das neu ins Hebräische übersetzt wurde, konnte es so das Erlernen der Sprache unterstützen.
Es war vor allem die junge Generation, die sich in der «neuen Heimatsprache» verständigte, während die eingewanderte Erwachsenengeneration in den ersten Nachkriegsjahrzehnten meist noch die Sprache ihrer Herkunftsländer sprach. Ein Buch wie «Heidi» konnte hierbei eine wichtige Hilfestellung bieten, um sich über einen bekannten Stoff der neuen Sprache anzunähern. Gerade für Emigrantinnen und Emigranten aus dem deutschsprachigen Europa sind Heidis Alpen eine vertraute Kulturregion, «Heidi» auf Hebräisch eine Mischung zwischen der Sehnsucht nach der alten Heimat und der Brücke zur neuen.
Heimatverlust, Neubeginn, ein Waisenkind, das nie den Mut verliert und eine neue Familie findet – dies alles lässt sich in «Heidi» finden und spielte zu der Zeit, als Israel Fishman den Roman erstmals ins Hebräische übersetzt, eine besondere Rolle. Im Impressum der Erstausgabe ist die Geschichte des jungen Staates Israel auf einer weiteren Ebene kurz und kompakt zusammengefasst: 1946 steht in der ersten Auflage «printed in Palestine», in der zweiten von 1948 «printed in Israel». In «Heidi» steckt vieles über Heimat drin.