Judn ohne Wiesn: Sigi und Tina

»Mit einem Dirndl ist man angezogen.«
Sigi wurde 1953 in Wolfratshausen, im dortigen DP-Lager Föhrenwald geboren. Tina wurde 1964 in Wien geboren. In München lebt sie seit 1995. Foto: © Lydia Bergida.
Sigi wurde 1953 in Wolfratshausen, im dortigen DP-Lager Föhrenwald geboren. Tina wurde 1964 in Wien geboren. In München lebt sie seit 1995. Foto: © Lydia Bergida.

Das ist jetzt die Frage: Gibt es den Bart wegen uns oder wegen Corona oder wegen etwas ganz anderem? Egal. Sigi trägt jetzt Bart und das steht ihm ganz wunderbar. Es steht ihm besonders zu der Lederhose und dem karierten Hemd. Und so geben die beiden, der Sigi und die Tina, ein wunderschönes, fotogenes Paar ab. Das war schon immer so, wie ein kleines Hochzeitfoto in der Schrankwand beweist. Scheint also zu klappen so eine Zusammenführung der alpenländischen Kulturkreise. Denn die Tina ist ja eine Wienerin und der Sigi eben ein Münchner. Bei der Wienerin – das stellt sie schnell klar – gibt es ja quasi gar keinen „gap“ zwischen dem Alltagsgewand und der Tracht. In Wien, in Österreich ist die präsent auch wenn die Wiesn kilometerweit entfernt ist und der Prater ja „eh was ganz anderes“. Der Sigi gehört, das wird schnell klar, zu der Bubn-Lederhosn-Fraktion. Das sind die, die als Kinder aus praktischen Gründen und „weil das alle so hatten“ jeden Morgen in die Lederhose geschlüpft sind und fertig. Der Sigi bringt außerdem noch eine weitere „Story“ mit, die eben auch ein Teil Münchens ist: Sigis Eltern haben in den 50ern/60ern in München eine kleine Wirtschaft geführt, in der vor allem amerikanische Soldaten, die in der Nähe stationiert waren, eingekehrt sind.

Der Sigi

Auf die Wiesn bin ich natürlich auch schon als Kind gegangen. Meine Eltern haben mich zwischen sich genommen und wir sind los. Ich hatte damals sicher eine Lederhose an, weil ich damals nämlich einfach immer eine Lederhose anhatte. So eine kurze, die ich von irgendjemandem bekommen habe und die ich auftragen durfte. Und dann die nächste und dann die nächste. Als Kind wächst man ja ziemlich schnell. So eine Lederhose war für uns Buben in den 50er und 60er Jahren einfach ein sehr praktisches und übliches Kleidungsstück. Meine Eltern führten zu der Zeit in Giesing, gegenüber vom Stadelheimer Gefängnis, ein Wirtshaus. Und weil sie da auch Bier ausgeschenkt haben, haben wir über die Brauerei, die uns beliefert hat, ein paar Freimarken bekommen für Wiesn-Bier und Wiesn-Hendl. Meistens sind wir dann nachmittags los gegangen und wenn es ein bisschen später geworden ist, habe ich immer schnell ein bisschen Angst gehabt vor den vielen Betrunkenen und Halbstarken. Die bunten Lichter vor dem dunklen Himmel, die sind es gewesen, die mir gefallen haben. Und die Autoscooter.

Heut sind, wenn ich mit meiner Frau, den Kindern oder Freunden auf die Wiesn gehe, zum Hendl noch die Steckerlfisch und die Enten dazu gekommen. Und zu den Autoscootern manchmal auch noch die Achterbahn. Manchmal.

Ich glaub übrigens, dass es in München kaum eine jüdische Familie gibt, die nicht auf die Wiesn geht. Ich glaub das nicht. Und wenn man nichts zum Anziehen hat? Über die sozialen Medien lässt sich da doch schnell was Passendes organisieren. Tracht muss heutzutage schon sein. Früher war das ein bisschen anders gewesen. Aber heut gehört die Tracht schon dazu. Ich bin ja für die El Al tätig und ich kenn das ja: Es kommen neue Kollegen nach München und die sagen dann: „Wie kann man nur so etwas anziehen?“ Und im nächsten Jahr? Was haben sie an? Ein Dirndl oder eine Lederhose.

Am Flughafen kriege ich natürlich auch mit, wenn zur Wiesn die ganzen Israelis anreisen. Nach ein paar Tagen fliegen sie wieder zurück und da muss man dann schon zweimal hinsehen. Ihr Outfit ist dann schon manchmal ein bisschen abenteuerlich. Besonders die Kopfbedeckungen. Das geht vom Tirolerhut bis zu irgendeinem Bierdeckel. Man könnte das die „Spätfolgen“ der Wiesn nennen, und bei der Vorstellung, wie die sich in der Montur am Strand vom Tel Aviv zeigen, muss ich lachen.

Die Tina

Bei meiner ersten Wiesn hat es wie wahnsinnig geschneit. Im Schneetreiben bin ich dann Fünferlooping gefahren und hab an meine verstorbenen Eltern gedacht. Die haben mich immer – obwohl sie kein einziges Mal dort gewesen sind – vor der Wiesn gewarnt. „Und dafür gibt man dann auch noch Geld aus!“, haben sie gesagt. An diesen Satz hab ich jedenfalls beim Fünferlooping im Schneesturm denken müssen. Aber mein Mann hat sie mir halt zeigen wollen die Wiesn. Und mittlerweile und nach fünfundzwanzig Jahren München, finde ich, dass sie einfach dazu gehört. Und diese Bierzelte haben ja auch wirklich was Gigantisches. Also, wenn da Tausende von Menschen drinnen sitzen und alles in Massen machen, trinken, essen, singen, tanzen…, dann wirkt das. Das ist dann ein Selbstläufer. In so einem Zelt haben wir mit Freunden schon seit vielen Jahren einen Jour Fixe. Immer auf den letzten Sonntag am Mittag laden die uns ein. Aus der jüdischen Community trifft man natürlich auch immer wieder Leute. Da gibt es ja einige, die wirklich regelmäßig hingehen. Und natürlich trage ich mein Dirndl. Als Wienerin ist das ja auch gar nichts besonderes. Es gibt Fotos von mir, da kann ich kaum laufen, und ich hab ein Dirndl an. Die kleinsten Mädel tragen Dirndl und in jedem Tal in Österreich gibt es ein anderes. Mit einem Dirndl ist man angezogen. Es ist bequem und total vielseitig. Du kannst damit auf ein Fest, du kannst damit zur Arbeit, du kannst damit ins Kaffeehaus, und am Abend kannst du damit ausgehen. Und natürlich lässt sich über ein Kleidungsstück signalisieren: Wenn ich das oder das anziehe, integriere ich mich in die Gesellschaft. Ich weiß zum Beispiel von meinen Großeltern, die ganz unterschiedlichen jüdischen Background hatten – die einen waren orthodox, die anderen sehr assimiliert… – in Wien haben die alle Tracht getragen.

Zu meinem Dirndl würde rein theoretisch sehr gut einer meiner Davidstern-Anhänger passen. Den könnte ich einfach an mein Halsband hängen. Aber ich entscheid mich dann doch immer für etwas anderes. Mit einem Davidsstern würde ich mich auf der Wiesn nicht wohl fühlen. Man stelle sich nur vor, man gerät da irgendwo hinein, irgendwo, wo die Leute nicht mehr Herr ihrer Sinne sind… Und da wollte ich dann nicht, dass mich jemand dumm darauf anspricht. Das muss nicht sein. Das würd mir meine ganze Laune verderben.


Fotoausstellung „Judn ohne Wiesn. Begegnungen mit Münchnerinnen und Münchnern in Tracht“

Lydia Bergida (Fotografien und Idee) und Katrin Diehl (Textarbeit)
Vom 15.9. bis 18.10. im Foyer des Jüdischen Museum München
Eintritt frei