Von Felicitas Heimann-Jelinek
Viele mögen überrascht sein von der Vielzahl und Vielfalt der nicht nur vor 1933, sondern vor allem auch im unmittelbaren Nachkriegseuropa erhobenen jüdischen Stimmen. Ganz im Gegensatz zu der weit verbreiteten Annahme, es könne nach 1945 kein jüdisches Leben mehr in Deutschland und in europäischen Ländern der Kollaboration mit den Nationalsozialisten geben, engagierten sich gerade Schoa-Überlebende in der Schaffung des europäischen Gemeinwesens. Man denke beispielsweise an Simone Veil, die erste Präsidentin des Europäischen Parlaments, Louise Weiss, dessen erste Alterspräsidentin oder auch an Ernst Lauterpacht und René Cassin, die als Juristen maßgeblich am und für den Europäischen Gerichtshof für Menschrechte wirkten. Die Ausstellung legt aber nicht nur beredtes Zeugnis vom zeitgenössischen Engagement dieser Menschen für Europa ab, sondern ruft auch einige jener in Erinnerung, die sich vor dem „Zivilisationsbruch“ dem Kampf um ein lebenswertes Europa jenseits sozialer, ethnischer oder religiöser Schranken verschrieben hatten. So hatte schon Walther Rathenau nach dem Ersten Weltkrieg die Vision eines vor allem wirtschaftlich gemeinsamen europäischen Raumes; Karl Marx, Rosa Luxemburg, Hilda Monte und Avraham Benaroya – um nur wenige zu nennen – engagierten sich für soziale Gerechtigkeit jenseits nationaler Grenzen, Benno Wolf trat für den Naturschutz ein, David Wijnkoop für die europäische Dekolonialisierung, Lew Nussimbaum sah im „Morgenland“ das Pendant zum „Abendland“ und Ludwik Zamenhof erfand gar eine Menschheitssprache.
Das Konstrukt des „jüdischen Anderen“
Es gibt aber noch eine weitere Überlegung zur spezifisch jüdischen Perspektive dieser Ausstellung – eine, die jenseits biografisch geprägter Überlegungen liegt. Sie sei hier angerissen: Eines der Hauptwerke des Mediävisten Ernst Kantorowicz war „The King’s Two Bodies“ (dt. Die zwei Körper des Königs), eine umfangreiche „Studie zur politischen Theologie des Mittelalters“ (so der Untertitel). Er entwarf darin aus der mittelalterlichen Vorstellung eines natürlichen, also sterblichen Körpers und eines übernatürlichen, heißt unsterblichen Körpers des Königs die Entstehungsgeschichte des modernen Staates, der zwischen der öffentlichen Funktion und der Person, die diese ausübt, unterscheidet. Den primär rätselhaften Untertitel, „Studie zur politischen Theologie des Mittelalters“, kommentierte Kantorowitz nicht und schon gar nicht löste er ihn auf. Aber natürlich ging es ihm darum nachzuzeichnen, dass politisches Handeln im mittelalterlichen „Abendland“ immer theologisch untermauert war – christlich theologisch, selbstredend. Diese Studie veranlasste wiederum den Mediävisten David Nirenberg dazu, ein schmales Bändchen mit dem Titel „‘Jüdisch‘ als politisches Konzept“ zu verfassen. Darin entwickelt er die These, dass „entscheidende europäische Konzeptionen des Politischen aus dem Denken über das Judentum und das Jüdische entstanden sind.“ Judentum versteht er hier nicht als historische oder religiöse Größe, sondern als „eine Figur christlichen Denkens“. Er zeichnet eine Geschichte des christlichen politischen Denkens nach, in der Politik, Staatskunst und weltliche Autorität mit der umfassenderen „Kategorie des fleischlichen Literalismus“ verknüpft wurden, der von der paulinischen Tradition eben als „jüdisch“ bezeichnet wird. Diese Tradition führte zu einer Tendenz, politische Fehlleistungen in Begriffen des Judentums zu diskutieren, wobei der Unterschied zwischen sterblich und ewig, privat und öffentlich, Tyrann und legitimer Monarch auf den Unterschied zwischen Jude und Christ übertragen wurde.
Als Ergebnis dieser Geschichte hat – welches politische Ideal auch immer – dieses seine Feinde nur allzu oft eben als „jüdisch“ dargestellt. Und stellt sie vielleicht immer noch oder wieder als Feinde dar – mal besser, mal schlechter verbrämt? bzw. sucht jetzt nach anderen Anderen – wie beispielsweise Migrant*innen – , die als Feindbilder eingesetzt werden können. Insofern wollen wir mit der Ausstellung einmal mehr darauf hinweisen, dass „das oder der jüdische Andere“ ein Konstrukt „abendländischen“ Denkens bzw. Interpretierens ist, und damit – wenn man will: ironischerweise – der eigenen Geschichte widerspricht. Denn diese vorgeblich anderen sind Teil dessen, was die europäische Gemeinschaft in ihrer besten, ihrer visionärsten Form ausmacht.
Die Ausstellung „Die letzten Europäer. Jüdische Perspektiven auf die Krisen einer Idee“ ist noch bis zum 21. Mai 2023 im Jüdischen Museum München zu sehen.
Die Texte und Videos der Ausstellung können über den Ausstellungs-Blog des Jüdischen Museums Hohenems aufrufen werden.