Mordechai W. Bernstein und das Jiddische

Von den sieben Sprachen, die Mordechai W. Bernstein beherrschte, stand ihm Jiddisch als Muttersprache am nächsten. Zwischen 1955 und 1960 publizierte er drei Bände mit einem Umfang von rund 1.000 Seiten zur jüdischen Geschichte in Deutschland – auf Jiddisch. Dieser Sprache und ihrer Bedeutung widmete er ein eigenes Kapitel.
Titelblatt von Mordechai W. Bernsteins „Dos iz geven nusekh ashkenaz“ („Das war die Epoche von Aschkenas“), Buenos Aires 1960 (jidd.), © Yiddish Book Center’s Spielberg Digital Yiddish Library.

Sprache der jüdischen Diaspora

Zusammen mit den im Mittelalter aus dem Rheingebiet vertriebenen jüdischen Gemeinden verbreitete sich das Jiddische zunächst in Mittel- und Osteuropa, wo Sprache und Kultur über die Jahrhunderte slawische Einflüsse aufnahmen. Bernstein, 1905 in Belarus geboren, lebte als junger Mann in Warschau und Vilnius, seinerzeit zwei Zentren jiddischer Kultur. Dort arbeitete er für zwei Organisationen, die sich aktiv für das Jiddische einsetzten: dem Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbund, der sich für die Aufwertung des Jiddischen als ‚Sprache der arbeitenden Massen‘ gegenüber dem Hebräischen einsetzte, und dem noch heute bestehenden YIVO. 1939 erlebte Bernstein mit dem Einmarsch der Deutschen in Polen den Anfang des Endes jiddischer Kultur in Europa mit: Schätzungsweise 85% der in der Schoa Ermordeten waren jiddischsprachig. Bernstein überlebte die Schoa in der Sowjetunion. 1946 kehrte er nach Polen zurück. Sein weiterer Lebensweg führte über Deutschland bis nach Argentinien und schließlich in die USA. Die Verbundenheit zu seiner Muttersprache Jiddisch und die Beschäftigung mit der aschkenasischen Kultur bildeten zwei untrennbar miteinander verbundene Konstanten in seinem bewegten Leben.

1948–1952 lebte Mordechai W. Bernstein in Deutschland, wo er unter anderem als Korrespondent des YIVO und Berater der JRSO (Jewish Restitution Successor Organization) von den Nationalsozialisten geraubte und verschollene jüdische Kulturgüter ausfindig machen sollte. Zu dieser Zeit war Jiddisch wieder vereinzelt auf deutschen Straßen zu hören: Überlebende aus Polen, Litauen und der Ukraine, die Jiddisch sprachen, hielten sich unmittelbar nach Kriegsende in Deutschland auf.  Entweder waren sie aus einem der dortigen Konzentrationslager befreit worden oder als sogenannte Displaced Persons in eine der westlichen Besatzungszonen gekommen, in der Hoffnung, von dort nach Israel oder in die USA auswandern zu können. Für einige Jahre gab es auch in München und den umliegenden DP-Lagern eine reichhaltige jiddische Kulturszene, sichtbar an Vereinen, Zeitungen und insbesondere Theatergruppen, die jiddische Aufführungen organisierten. 

Auf seiner Suche nach Spuren jüdischen Lebens in Deutschland besuchte Mordechai W. Bernstein nicht nur an die 800 Orte, er reiste auch durch 1700 Jahre jüdische-deutsche Geschichte: Von der Wiege des Aschkenas in Köln in die bedeutenden mittelalterlichen „SchUM“-Gemeinden Mainz, Worms und Speyer und an die vielen anderen bekannten und weniger bekannten Orte, an denen aschkenasische Jüdinnen und Juden ihre Spuren hinterließen. „Wir waren hier“, schreibt Bernstein und erklärt sich selbst genauso wie sein jiddischsprachiges Publikum zu Erben dieser Vertriebenen.

Zitat aus „In labirintn fun tkufes“ („Im Labyrinth der Zeiten“), Buenos Aires 1955, gelesen von Moises Bazijan.  

Als Bernstein an seiner Buchreihe arbeitete, lagen die neuen Zentren jiddischer Kultur jedoch längst außerhalb Europas: in Nord- und Südamerika, Südafrika und Israel. 1960 werden, wie Bernstein schreibt, „jiddische Bücher auf allen fünf Kontinenten, in mehr als 15 Ländern gedruckt. Über die letzten vier Jahre hinweg erscheinen in ‚Jiddischland‘ […] jede Woche knapp drei Bücher. Außerdem jeden Monat 40 verschiedene Publikationen, Zeitschriften, Sammelbände und ähnliches.“ (Dos iz geven nusekh ashkenaz, 1960, S. 336) Bernstein weist darauf hin, dass sich keine andere von Jüdinnen und Juden in der Diaspora gesprochene Sprache jemals derart verbreitet habe wie das Jiddische. Unter Bezeichnungen wie „Jiddischland“ oder „Jiddisch-Imperium“ (Ebd., S. 333) verbreitete sich zu Bernsteins Zeit die Idee eines transnationalen Sprach- und Kulturkreises, der bereits vor der Schoa längst nicht auf Mittel-/Osteuropa begrenzt war.  

„Jiddischland“ heute

Für Bernstein war Jiddisch lebendiger Ausdruck der aschkenasischen Kultur. Das Schreiben auf Jiddisch für ein jiddischsprachiges Publikum ermöglichte ihm Zugriff auf ein geteiltes kulturelles Wissen und die Bezugnahme auf eine gemeinsame Geschichte. In seinen Überlegungen zum Jiddischen ging es ihm daher nicht allein um die Sprache: So wie es im Jiddischen nur eine Vokabel für „jiddisch“ und „jüdisch“ gibt, war beides für Bernstein ein kulturelles Gesamtkonzept.

Heute ist die Situation eine veränderte: Abseits der jiddischsprachigen Communities, die vor allem in Israel und den USA weiterhin bestehen, lernen immer mehr Menschen Jiddisch als Fremdsprache. Die Gruppe der Akteur*innen jiddischer Kultur ist diverser geworden und längst erstreckt sich „Jiddischland“ auch ins Internet. Wir sprechen in den kommenden Wochen im Blog und auf unseren Social-Media-Kanälen mit Menschen, die Jiddisch lernen und lehren, und freuen uns auch auf Ihre Kommentare. 

Digitalisate von Mordechai W. Bernsteins Büchern können Sie frei zugänglich in der Sammlung des Yiddish Book Center finden.

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