„Als ich angefangen habe, gab es nur Nicht-Juden“

Menschen mit einem jüdischen Vater und einer nicht-jüdischen Mutter sind laut der Halacha keine Jüdinnen und Juden. Und dennoch sind sie Teil jüdischer Familien, sie gestalten jüdische Kultur und erleben Antisemitismus. Soziologin Dr. Ruth Zeifert hat für diese Gruppe den Begriff „Vaterjuden“ mit geprägt und setzt sich für deren Sichtbarkeit und Anerkennung ein. Wir haben mit ihr über ihr Buch „Väter unser… Vaterjüdische Geschichten“ gesprochen.
Portraitfoto Ruth Zeifert vor neutralem Hintergrund
Dr. Ruth Zeifert, © privat

Frau Zeifert, 2016 promovierten Sie bereits zum Thema „Vaterjuden in Deutschland“. 2021 ist mit „Väter unser… Vaterjüdische Geschichten“, das Sie gemeinsam mit Ionka Senger und Regula Weil veröffentlicht haben, ein sehr persönliches Buch entstanden. Wie kam es dazu?

RZ: Als ich meine Dissertation schrieb, gab es noch nichts über das Thema. Auch das Internet war noch nicht so groß, dass sich viele hätten austauschen können. Und so war alles, was ich zu dem Thema publiziert habe, auch Anreiz für Menschen, mit mir in Kontakt zu treten. Ich wurde in Frankfurt zu einer Gruppe Patrilinearer eingeladen, in der ich Ionka Senger kennenlernte. Wir bemerkten, dass die Geschichten, die man sich dort am Frühstückstisch erzählt, alle einen schweren Hintergrund haben, so gehaltvoll und spannend sind, dass man daraus ein Buch machen müsste. Und dann meldete sich noch Regula Weil aus der Schweiz. Sie hatte meine Dissertation gelesen und war tief bewegt, weil sie sonst noch nie etwas zum Thema gelesen hatte. Wir kamen ins Gespräch und ich habe gefragt, ob sie Lust hat mitzumachen.

Sie sind als Kind eines jüdisch-israelischen Vaters und einer nichtjüdischen, deutschen Mutter in Frankfurt aufgewachsen. Ab wann begannen Sie sich aktiv mit Ihrer „doppelten“ Identität auseinanderzusetzen?

RZ: Als Kind der 70er war der Holocaust noch sehr präsent und es war ein Gegensatz da zu nicht-jüdischen Deutschen und deren Familiengeschichte. Mir war immer sehr bewusst, dass es bei mir noch eine andere Familiengeschichte gab, die sehr grausam war, und dass die Verantwortung dafür bei diesen anderen Menschen um mich herum lag, bei deren Familien. Ich habe gesehen, dass bei anderen Leuten alte Möbel standen; wir hatten keine, denn es war keine Familie mehr da und alles wurde weggenommen. Eine positive Erinnerung: Wir bekamen um die Weihnachtszeit immer eine Kiste Orangen und Avocados aus dem Heiligen Land. Das gab’s so noch nicht im Supermarkt.

Im Juli 2021 löste Max Czollek, der im Buch mit zwei Gedichten vertreten ist, mit einem Tweet eine öffentliche Debatte zum Thema Patrilinearität aus. Im deutschen Feuilleton und unter dem Hashtag #patrilinear wurde über Wochen diskutiert. Es gab auch Stimmen, die kritisierten, dass eine innerjüdische Debatte so öffentlich ausgetragen wird. Parallel dazu erschien Ihr Buch. Wie haben Sie die Diskussion wahrgenommen?

RZ: Es ist eine Folge der deutsch-jüdischen Geschichte, dass es uns so gibt mit der Problematik, die wir haben. Die Identifikation von Vaterjuden mit dem Jüdischen funktioniert über Familienzugehörigkeit, über Schicksalsgemeinschaft, über Antisemitismus-Erfahrung. Es ist gar nicht so sehr der religiöse Hintergrund, wir Kinder sind oft gar nicht religiös. Ich finde es deshalb nicht fair, dass das Thema auf eine innerjüdische, religiöse Diskussion verkürzt wird. In einer ökumenischen Veranstaltung beispielsweise ist mir klargeworden, wie wenig Ahnung die Menschen im Publikum haben. Mein Hintergrund ist evangelisch und jüdisch. Aber das zu erklären, stieß auf sehr viel Unwissen und Ablehnung. Da war auch viel Antisemitismus im Raum. Es wäre besonders wichtig, mit diesem Thema in kirchliche Zusammenhänge zu gehen, um darüber zu sprechen. Je mehr Öffentlichkeit das Thema bekommt, je mehr Diskussion findet auch innerjüdisch statt.

Wie hat sich die innerjüdische Wahrnehmung verändert, seitdem Sie sich mit dem Thema beschäftigen?

RZ: Als ich angefangen habe, gab es nur Nicht-Juden, also Vaterjuden sind Nicht-Juden. Das war in den Gemeinden und Institutionen so gesetzt. Mittlerweile öffnen zumindest die liberalen Gemeinden ihre Türen. Ich bin zum Beispiel in der Liberalen jüdischen Gemeinde München Beth Shalom. Da gibt es die Möglichkeit einer Fördermitgliedschaft für Vaterjuden, man kann Mitglied werden, aber nicht in den Vorstand gehen und an Wahlen teilnehmen. Darüber hinaus ermöglicht die Allgemeine Rabbinerkonferenz mittlerweile die Anerkennung. Das ist unglaublich, dass das mittlerweile möglich ist. Das Problem ist, dass die Orthodoxie noch nicht so weit ist. Die Orthodoxe Rabbinerkonferenz beharrt weiter auf dem Status als Nicht-Juden. Eine Öffnung ist nicht abzusehen.

Sind Sie den Schritt der Anerkennung gegangen?

RZ: Ich habe vor nicht langer Zeit mit Rabbiner Sievers darüber gesprochen und bin wirklich sprachlos über diese Möglichkeit. Er hat mir versichert, er würde mir bestätigen, was meine Selbstwahrnehmung ist. Ich habe den Übertritt jedoch nicht gemacht, weil mein Vater es nicht will. Ich habe einen israelischen Vater von deutschen Migranten aus dem Nationalsozialismus und er sagt, in Deutschland als Jude zu leben, ist zu gefährlich, jeden Tag gibt es sechs antisemitische Übergriffe in Deutschland. Meine Mutter wäre übergetreten, bevor wir geboren wurden. Das ging nicht, weil die Orthodoxie zu viel verlangt hat von diesen säkularen Personen. Ich habe lange für die Möglichkeit der Anerkennung gekämpft und bin sehr glücklich, dass meine Tochter es nun machen wird. Das andere ist, ich habe zehn Jahre gemeinsam mit anderen Vaterjuden viele Diskussionen geführt, Vorträge gehalten, und wir haben uns eine eigene Position erkämpft. Wenn ich das Briefchen hätte, dann wäre ich nicht mehr Vaterjüdin, sondern Konvertitin. Vielleicht dürfte ich mich in machen Diskussionen eher Jüdin nennen. Aber im Moment kann ich ganz gut damit leben, dass ich bin, wer ich bin.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft?

Wir leben in einer Gesellschaft, in der Herkunft wichtig ist und gelebt und akzeptiert werden soll, aber in der Grenzen immer mehr überschritten werden, in der immer mehr Mischung rauskommt. Anstatt immer zu erwartet, dass man sich irgendwie verortet, würde ich mir einen Platz in der Mitte, ein Dazwischen, wünschen. Das nächste wäre speziell für Vaterjuden ein eigener Brauch. Dass man sagt, wir haben verstanden, dass es eine Zugehörigkeit über Familie, Schicksalsgemeinschaft und so weiter gibt, und wenn ihr das Band zu Judentum wieder schließen wollt, dann machen wir einen anderen Brauch für euch als die Konversion.

Buchcover
„Väter unser… Vaterjüdische Geschichten“, hg. von Ionka Senger, Regula Weil und Ruth Zeifert, erschienen 2021 bei Vandenhoeck & Ruprecht

„Väter unser… Vaterjüdische Geschichten“. Eine Lesung und mehr

Am 13. Juli 2022 stellt Ruth Zeifert gemeinsam mit Regula Weil und Max Czollek das Buch „Väter unser… Vaterjüdische Geschichten“ im Jüdischen Museum München vor:

13.07., 19.00 Uhr im Jüdischen Museum München

Eintritt: 8 €

Weitere Infos und Anmeldung

Eine Veranstaltung der Liberalen jüdischen Gemeinde München Beth Shalom in Kooperation mit Chaverim – Freundeskreis zur Unterstützung des liberalen Judentums in München, dem Jüdischen Museum München und der Literaturhandlung München.