Neuanfang in München – Erinnerungen an Radio Free Europe und Radio Liberty

Konstantin Erschow kam als Displaced Person nach München, wo er über zwanzig Jahre Nachrichten für Radio Liberty auf Russisch verfasste. Seine Tochter Tatjana Erschow leitet die Münchner Tolstoi-Bibliothek. Mit ihrem Team unterstützt sie selbst seit vielen Jahren hier lebende und neu zugewanderte russischsprachige Menschen. Unsere Gastautorin Marina Maisel hat sie getroffen.
Tatjana Erschow sitzt an einem Tisch vor einer Bücherwand. Vor ihr liegt ein aufgeschlagenes Buch.
Tatjana Erschow in der Münchner Tolstoi-Bibliothek, Foto: © Marina Maisel

Die Suche nach Spuren des Senders Radio Liberty in München führt mich in die Tolstoi-Bibliothek (Tolstoi-Hilfs- und Kulturwerk), eine seit 1949 bestehende Münchner Institution, die ich sehr schätze, weil sie mit ihrer Bibliothek und mit kultureller Bildung russische Sprache und Kultur vermittelt und mit ihrer Sozialberatungsstelle russischsprachigen Menschen bei der Integration hilft. Hier begegne ich der langjährigen Leiterin, Tatjana Erschow, die mir von ihrem Vater, Konstantin Erschow, erzählt. Er war mehr als zwanzig Jahre bei Radio Liberty in München als Nachrichtenredakteur tätig.

Konstantin Erschow wurde 1920 auf der Krim geboren, wuchs in Moskau auf und studierte dort. Nach Ende des Krieges floh er nach Deutschland und lebte für einige Zeit in einem DP- Lager, erst in Farchant bei Garmisch, dann in München, bis er später seinen Weg zu Radio Liberty fand. Seine Aufgabe als Nachrichtenredakteur war es, aus den englischsprachigen Nachrichten der Agenturen Texte auf Russisch zu verfassen für die Radio-Sprecher.

„Zu Hause wurde nicht viel über seine Arbeit gesprochen“, erinnert sich Tatjana: „Als kleines Mädchen habe ich ihm aber auch kaum Fragen wegen seiner Arbeit gestellt.“ Den DP-Ausweis ihres Vaters und seine Armbanduhr – ein Geschenk der Radio-Redaktion – hat Tatjana aufbewahrt. Vor allem aber hat er ihr die Liebe zu seiner Muttersprache Russisch hinterlassen. Die Puschkin-Ausgabe, die die beiden gemeinsam gelesen haben, steht noch heute in ihrem Bücherregal. „Über meinen Vater habe ich den Bezug und die Liebe zur russischen Sprache und zur russischen Literatur entwickelt. Das wollte er mir wohl unbedingt weitergeben und das hat mein ganzes Leben geprägt.“

Text: Marina Maisel

Die Münchner Radiosender Radio Free Europe und Radio Liberty beschäftigten ab den 50er Jahren viele ehemalige DPs, Dissident_innen aus den kommunistischen Ländern und andere, die ihren Weg von Osteuropa nach München gerade erst gefunden hatten. Einer von ihnen war der berühmte Literaturwissenschaftler Peter Demetz, dessen Biografie wir noch bis zum 5. März 2023 im Rahmen der Ausstellung „Radio Free Europe. Stimmen aus München im Kalten Krieg“ bei uns im Foyer vorstellen. Vier weitere Biografien können Sie in der Galerie Einwand des Münchner Stadtmuseums entdecken.

Sie verbinden ebenfalls eine persönliche Erinnerung mit Radio Free Europe oder Radio Liberty? Schreiben Sie uns an: social-juedisches-museum@muenchen.de