Von Nurit Blatman
Mit «Heidi» wurde 1946, gerade mal ein Jahr nach Ende des Zweiten Weltkrieges, ein Buch aus dem deutschen Sprachraum ins Hebräische übersetzt. Das Verhältnis zu Deutschland ist zu jener Zeit sehr schwierig und komplex. Gerade die deutschsprachigen Emigrantinnen und Emigranten versuchen sich von der schmerzhaften Vergangenheit zu distanzieren und im damaligen Palästina einen Neuanfang mit einer eigenständigen, aus der hebräischen Sprache heraus definierten kulturellen Identität zu beginnen. Auf der anderen Seite verspüren viele von ihnen noch ein starkes Verbundenheitsgefühl zur zurückgelassenen deutschsprachigen Kultur. Dieses ambivalente Verhältnis spiegelt sich in der ersten «Heidi»-Übersetzung wider. Es lassen sich Spuren einer Annäherung, gleichzeitig an anderen Stellen wiederum Formen der Distanzierung zum deutschsprachigen Raum finden.
Israel Fishman nennt seine Übersetzung von Johanna Spyris Roman 1946 «Heidi Bat HaAlpim» [Heidi, Tochter der Alpen] und scheint sich damit an sein zeitgenössisches Lesepublikum zu richten. Die «Alpen» im Titel bezeichnen konkret die Alpen-Region Europas und lassen die Sehnsucht nach der verlorenen Heimat direkt im Titel anklingen, die viele Jüdinnen und Juden bei ihrer Flucht aus Europa zurücklassen mussten. Fishmans «Heidi»-Übersetzung scheint erfolgreich und kommt bereits zwei Jahre später erneut in den Druck. Bis in die 1960er Jahre hinein wird seine Übersetzung regelmäßig verlegt und immer wieder neu herausgegeben. Gleichzeitig kommen ab den 1950er Jahre parallel zu dieser Ausgabe weitere, kürzere Adaptionen der Geschichte auf den Markt. Diese Kurzfassungen tragen einen anderen, leicht veränderten Titel: Anstelle von «Heidi Bat HaAlpim» [Heidi, Tochter der Alpen] heißen sie nun «Heidi Bat HeHarim» [Heidi, Tochter der Berge]. Aus den spezifisch europäischen «Alpen» werden ganz allgemeine «Berge». Diese neuen Bücher haben ein kleineres, dünneres Format, farbenfrohe Titelseiten und richten sich an kleine Kinder. Sie sind für ein junges Lesepublikum geschrieben, das in Israel zur Welt gekommen ist und nicht mehr denselben emotionalen Bezug zu den Alpen hat.
Die Figuren und Ortschaften im Roman machen ebenfalls eine «Namensänderung» durch. Während die «Alpen» im Titel der Übersetzung von Israel Fishman eine Annäherung an die vergangene, verlorene Heimat sind, findet im Prozess der Übersetzung bei Israel Fishman gleichzeitig auch eine Distanzierung gegenüber Deutschland statt. Bei seiner Übersetzung ins Hebräische ändert er einige Namen ab, greift auf eine französische Übersetzung des Romans zurück und distanziert sich so von deutsch-klingenden Namen und Assoziationen. So heißt «Peter» bei ihm «Pierre», die Familie «Sesemann» wird zur Familie «Gérard». Nur der Name der strengen Gouvernante Fräulein «Rottenmeier» wird in der hebräischen Übersetzung nicht abgeändert.
Auch auf der Bühne lassen sich Unterschiede in den verschiedenen Adaptionen ausmachen: In der ersten israelischen Theater-Adaption des Stoffes aus dem Jahr 1956 wird Heidi nicht ins «graue Frankfurt», sondern ins «sonnige Venedig» gebracht. In späteren Aufführungen wird allgemein von der «großen Stadt» gesprochen, ohne konkreten Ortsbezug. In den nachfolgenden Jahrzehnten, je weiter die Schoa zurückliegt, nähern sich die Übersetzungen und Adaptionen wieder mehr dem Original an und Heidi geht nach Frankfurt.
Von den «Alpen» zu den «Bergen», von «Pierre» zu «Peter» oder von «Venedig» über die «große Stadt» nach «Frankfurt» – Die unterschiedlichen Übersetzungen «Heidis» greifen in den verschiedenen Jahrzehnten immer wieder neue mentalitätsgeschichtliche Phänomene und Bezüge auf. Anhand solcher kleinen Abänderungen lässt sich die Entwicklung der israelischen Gesellschaft und die Bildung einer eigenständigen, israelischen Identität widerspiegeln und nachzeichnen. So können wir durch die unterschiedlichen «Heidi»-Übersetzungen viel über den jeweiligen Zeitgeist lernen – alleine schon an der Art und Weise, wie «Heidi», «Peter» & Co. jeweils heißen.