Es ist nicht unbedingt so, dass jede*r in Friedberg die Mikwe, das „Judenbad“, kennt, doch gehört sie seit Jahrzehnten mit der gotischen Stadtkirche und der ausgedehnten Burganlage zum festen Kanon der Friedberger Sehenswürdigkeiten, die zum Beispiel im Verlauf von Stadtführungen besichtigt werden. Ebenso wird die Mikwe (oft) von Schulklassen von der Grundstufe bis zur Oberstufe besucht. Im Selbstverständnis der kulturell und historisch Interessierten ist sie fester Bestandteil Friedbergs. Tourist*innen, die aus der Region oder aus der Ferne nach Friedberg kommen, staunen über das besondere Bauwerk, das mit seiner Tiefe von 25 Metern, seiner architektonischen Qualität und seiner einstigen Funktion als jüdisches rituelles Bad für die meisten eine ganz neue Erfahrung bedeutet. Manche kommen hingegen gezielt wegen der Mikwe nach Friedberg, die schließlich eine der wenigen gut erhaltenen monumentalen mittelalterlichen Mikwen Deutschlands, ja Europas ist und vermutlich den eindrucksvollsten Raumeindruck bietet. Diese Besucher*innen, die aus Deutschland, dem europäischen Ausland, aber auch aus Israel oder den USA kommen, habe über ihre Religion, ihre Familiengeschichte oder über ihre Forschungen eine besondere Verbindung zur Mikwe.
Als bedeutendste Friedberger Sehenswürdigkeit ist die Mikwe nicht nur eines der wenigen Zeugnisse einer über 700-jährigen Geschichte jüdischen Lebens in Friedberg, sie führt zugleich mit ihrer Bauzeit in der Mitte des 13. Jahrhunderts bis in die Anfänge der jüdischen Gemeinde zurück, die nur wenige Jahrzehnte nach der Gründung von Burg und Stadt (Ende des 12. Jahrhunderts) urkundlich nachweisbar ist. Die anderen Zeugnisse jüdischen Lebens in Friedberg, das in der NS-Zeit mit der Deportation und Ermordung der Friedberger Jüdinnen und Juden ein brutales Ende fand, sind vor allem Leerstellen: Der Platz der einstigen Synagoge in der Judengasse, nur 30 Meter von der Mikwe entfernt, zeigt als gestalteter Gedenkplatz vor allem die Lücke und den Verlust, die mit der Zerstörung der der jüdischen Gemeinde und ihrer Synagoge entstanden sind. Der ehemalige jüdische Friedhof wird als Grünanlage erhalten und gepflegt, an das, was er einmal war, erinnern Gedenktafeln und vier erhaltene Grabsteine.
Auch wenn heute wieder Jüdinnen und Juden in Friedberg leben, so konnte doch nach 1945 nicht wieder an das einstige jüdische Leben angeknüpft werden. Anders in der nur wenige Kilometer entfernten Nachbarstadt Bad Nauheim, wo in der 1927–29 erbauten Synagoge unmittelbar nach der Befreiung 1945 wieder Gottesdienste stattfanden und eine neue Jüdische Gemeinde entstand, der heute Jüdinnen und Juden aus Friedberg und der Wetterau angehören. Wird also in der Wetterau jüdisches Leben und Alltagskultur heute vor allem in Bad Nauheim sichtbar, so bildet die Mikwe in Friedberg ein eindrückliches Zeugnis für das vergangene jüdische Leben in dieser Stadt. Damit schlägt sie in zeitlicher Sicht eine Brücke in die Vergangenheit. Heute, in der Gegenwart, bildet sie aus räumlicher Sicht zahlreiche Brücken: Bezüge zu anderen Orten mit erhaltenen mittelalterlichen Mikwen (z.B. Speyer, Worms, Köln, Andernach, Montpellier, Besalù u.a.), und Referenzpunkte für Menschen auf der ganzen Welt, für die Mikwen eine besondere Bedeutung haben, als Sehenswürdigkeit, als Forschungsobjekt und ihrer eigentlichen Bestimmung entsprechend als Mikwe.
Der letzte Aspekt mag erstaunen. Bisher habe ich die Mikwe als Sehenswürdigkeit, als Kulturdenkmal und Zeugnis der Geschichte beschrieben – so wird sie heute (und bereits seit dem 19. Jahrhundert) vor allem wahrgenommen. Als rituelles Tauchbad erbaut, diente sie weit über 500 Jahre ihrer Zweckbestimmung als Mikwe, bis sie um 1800 von der jüdischen Gemeinde selbst „außer Betrieb“ genommen und durch eine neue, schlichte, aber bequemere Mikwe ersetzt wurde (die nicht erhalten ist). Sie wurde sogar verkauft, zweckentfremdet, später zurückerworben, restauriert, als Sehenswürdigkeit zugänglich gemacht, 1939 unter Druck an die Stadt verkauft und wird weiterhin bis heute als Denkmal unterhalten und für Besucher*innen an sechs Tagen pro Woche zugänglich gemacht. Eine Nutzung als Mikwe ist weder von offizieller jüdischer Seite noch von städtischer Seite vorgesehen. Doch haben über Jahre orthodoxe Juden (junge Männer) aus New York einen Weg in die Friedberger Mikwe gefunden, wurden zum Beginn einer Europa-Tour direkt vom Frankfurter Flughafen von einem kundigen Taxifahrer nach Friedberg gefahren, außerhalb der Öffnungszeiten eingelassen und haben dann – unbeobachtet – die Mikwe genutzt – dankbar und froh, sich an einem alten Ort im rituellen Bad mit der Tradition und Geschichte verbinden zu können. Außerdem nutzte auch ein Mitglied der jüdischen Gemeinde Frankfurt hin und wieder diese Möglichkeit und zog die Aura des historischen Ortes der Bequemlichkeit einer modernen Mikwe vor.
Auch im aktuellen Jubiläumsjahr „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ 2021 werden durch die Friedberger Mikwe Brücken geschlagen, Verbindungen hergestellt: eine nach München ins Jüdische Museum mit dem Modell der Mikwe in der Ausstellung „Im Labyrinth der Zeiten“, eine andere nach New York, wo vom Leo Baeck Institute New York/Berlin (LBI) im Rahmen des virtuellen Shared History Projects die Friedberger Mikwe im Februar als Objekt 7 stellvertretend für die im deutschsprachigen Raum erhaltenen monumentalen jüdischen Ritualbäder des Mittelalters vorgestellt wurde.
Johannes Kögler, Wetterau-Museum/Historische Einrichtungen
* Von Grundwasser gespeiste Ritualbäder, Mikwen, dienen der rituellen Reinigung. Neben Synagoge und Friedhof gehört die Mikwe zu den zentralen Einrichtungen einer jüdischen Gemeinde. Im Mittelalter entstanden in Deutschland teilweise monumentale Anlagen.