Dieser blassblaue Seder-Teller aus Steingut ist kein Unikat. 1948 als Massenware gefertigt, haben Teller wie dieser Eingang in die Sammlungen vieler Jüdischer Museen gefunden, wie etwa in Berlin oder Frankfurt. Hergestellt wurden sie für die Verwendung in Displaced-Persons (DP)-Lagern.
Der Teller trägt das Logo des JOINT (American Jewish Joint Distribution Committee), einer amerikanischen Hilfsorganisation, die unter anderem für das religiöse und kulturelle Leben in den jüdischen DP-Lagern sowie die berufliche Weiterbildung der Überlebenden zuständig war. Gefördert wurde die Ausbildung in handwerklichen und anderen praktischen Berufen, auch die Herstellung von Keramik fiel darunter. Der JOINT in München beauftragte jüdische DPs in Marktredwitz (Oberfranken), mehr als zweitausend dieser Seder-Teller herzustellen, die dann für Pessach an Überlebende verteilt wurden. Ein Stempel auf der Rückseite des Tellers bestätigt: Tozeret schearit ha-pleita be-galut germania, hergestellt vom Rest der Geretteten im Exil in Deutschland.
„Rest der Geretteten“ (Sche’erit Hapleta), so bezeichneten sich die Überlebenden der Schoa, die nach Kriegsende als Displaced Persons in die westlichen Besatzungszonen kamen, meist in der Hoffnung auf eine Ausreisemöglichkeit nach Palästina oder in die USA. Ihre Situation ist ungewiss. 1945 lag die Zahl der jüdischen DPs bei 50.000 bis 70.000. 1947 steigt sie in den westlichen Besatzungszonen auf über 180.000. In den jiddischsprachigen Zeitungen, die in den Lagern gedruckt werden, wird das politische Ringen um das noch britische Mandatsgebiet Palästina mitverfolgt. Die Exodus-Geschichte in der Tora, also die Befreiung der Israelit*innen aus der Sklaverei und ihr Auszug aus Ägypten, gewinnt in dieser Situation für viele der Überlebenden eine aktualisierte Bedeutung.
„Dieses Jahr in Jerusalem!“
Pessach gehört zu den Feiertagen, an denen das gemeinsame Erinnern im Vordergrund steht. An den beiden Seder-Abenden (in Israel nur ein Abend) wird im Kreis der Familie oder der Gemeinde mit bestimmten symbolischen Speisen und dem Nacherzählen der Exodus-Geschichte an die Befreiung der Israelit*innen erinnert. Der Seder-Teller aus unserer Sammlung hat Ausbuchtungen für die sechs Seder-Speisen. Zwei Darstellungen auf dem Tellerrand zeigen Arbeiter und einen Aufseher mit Peitsche vor einer Pyramide sowie eine „orientalisch“ anmutende Stadtkulisse mit Palmen und Kuppelbauten. Anstelle des traditionellen Seder-Wunsches „Nächstes Jahr in Jerusalem!“ trägt der Teller die Inschrift „Von der Sklaverei zur Freiheit: Dieses Jahr in Jerusalem“. Hierin kommt die Hoffnung auf eine baldige Ausreise zum Ausdruck, die so viele Überlebende zu diesem Zeitpunkt teilen.
Trotz seiner einfachen Gestaltung wird der Seder-Teller damit zu einem wichtigen Zeitdokument, das nicht nur vom (zeitweisen) Wiederaufleben jüdischen Glaubens und jüdischer Kultur in Deutschland erzählt, sondern nicht zuletzt von Menschen, die in ihrer ungewissen Lage vor allem auf eines hoffen: auf ein Leben in Freiheit.
Der Seder-Teller wird ab dem 5. Juli in der Ausstellung „München Displaced. Der Rest der Geretteten“ zu sehen sein.