Wer sich mit VR-Brille durch die Anwendung „München 72“ bewegt, sollte schwindelfrei sein. Denn nach dem Testen der Funktionen in einem Umkleideraum und der Auswahl eines Avatars geht es erstmal rauf auf den Olympiaturm. Rein virtuell, versteht sich. Neben einem atemberaubenden Rundumblick gibt es dort Originalaufnahmen der Eröffnungsfeier zu entdecken. Wir bewegen uns zunächst durch eine bunte Welt, angelehnt an die Architektur des Olympiaparks. Video- und Tonaufnahmen machen die Stimmung der „Heiteren Spiele“ erlebbar.
Die israelischen Sportler sind in jedem der Räume präsent: Wir lernen die Gewichtheber David Berger, Yossef Romano, Ze’ev Friedman, und deren Trainer Tuvia Sokolski bereits in der Umkleide kennen. Eine bisher unveröffentlichte Videoaufnahme zeigt die Hürdenläuferin Esther Shahamorov und ihren Trainer Amitzur Shapira. Wir sehen Fotos vom Besuch der israelischen Delegation im Deutschen Theater am Abend vor dem Attentat.
Darstellung des Attentats
Auf einmal stehen wir in einem engen Korridor, der in einen den Unterkünften im Olympischen Dorf nachempfundenen Raum führt. Die Farben sind gedeckt, von der heiteren Stimmung ist nichts mehr zu spüren. Über einen Radiobeitrag erfahren wir, dass palästinensische Attentäter die Unterkunft der israelischen Sportler überfallen und zwei von ihnen getötet haben; neun weitere Israelis befinden sich in Geiselhaft. Originalaufnahmen lassen uns die Berichterstattung am Tag der Geiselnahme mitverfolgen.
Eva Deinert, die „München 72“ zusammen mit Matthias Leitner entwickelt hat, war es wichtig, den Ablauf des Attentats genau zu rekonstruieren. In kleinteiliger Archivrecherche hat sie zusammengetragen, was sich wann ereignete, welche Meldungen – und Falschmeldungen – es gab. Besonderes Augenmerk liegt auf den räumlichen Gegebenheiten: „Wir wollten die Räume nicht eins zu eins rekonstruieren, sondern in die VR-Welt übertragen mit unserer Interpretation.“ Und die lebt vor allem von den vielen Details. So finden wir in der Anwendung persönliche Gegenstände der getöteten Sportler, die Deinert in den Obduktionsberichten vermerkt fand: eine Kamera, Sportlerausweise, Postkarten an ihre Familien.
Eine Leerstelle bilden die Ereignisse am Fliegerhorst Fürstenfeldbruck, wo in der Nacht zum 6. September die Befreiung der Geiseln scheiterte. „Man kennt den Ausgang. Man kennt die Fotos von den ausgebrannten Hubschraubern zur Genüge. Die wollten wir nicht zeigen,“ erklärt Eva Deinert. „Weil wir nicht genau wissen, was in Fürstenfeldbruck passiert ist, können wir uns an die Ereignisse nur annähern. Damit wollten wir dramaturgisch spielen.“ Nach dem Olympischen Dorf ist die nächste Station in der VR-Anwendung deshalb nicht der Fliegerhorst, sondern der Stau, der sich auf dem Weg dorthin gebildet hatte. Journalist_innen und Schaulustige versperrten die Zufahrt auch für Polizei und Rettungskräfte. Wir hören zuerst die Falschmeldung, dass die Befreiungsaktion gelungen sei, und später, dass alle israelischen Geiseln sowie ein deutscher Polizist in der Nacht getötet wurden.
Gedenken im virtuellen Raum
Am Ende der Anwendung wird jedes der zwölf Opfer mit einem kurzen Text und Fotos gewürdigt. Der Ort in der VR-Welt ist dem Erinnerungsort im Olympiapark nachempfunden. Besonders wichtig sei es gewesen, die Familien der Getöteten mit in das Projekt einzubeziehen, so Eva Deinert. Über das Jüdische Museum München und das Generalkonsulat des Staates Israel konnte Kontakt zu den Hinterbliebenen in Israel hergestellt werden. Eva Deinert und Matthias Leitner stellten das Konzept und erste Prototypen vor. Die Rückmeldungen der Angehörigen waren überaus positiv, berichtet Deinert: „Dass es eine moderne Form der Erinnerungskultur ist, die sich besonders auch an junge Menschen richtet, ist den Hinterbliebenen sehr wichtig.“
Der Einsatz der VR-Anwendung im schulischen Kontext wurde von Anfang an mitgedacht. So können Schüler_innen die VR-Welt gemeinsam besuchen und sich in der Anwendung auch über Voicechat verständigen. Die Nutzung ist auch ohne VR-Brille in einer Desktop-Variante möglich. „Es gibt eine wachsende VR-Szene in Bayern und auch Museen und Gedenkstätten haben Interesse an digitalen Erinnerungsprojekten,“ so Deinert, die bereits 2020 die AR-App „Die Befreiung“ für die KZ-Gedenkstätte Dachau konzipiert hat.
Letzte Station von „München 72“ ist die Abflughalle des ehemaligen Flughafens Riem, von wo aus die Särge der ermordeten Sportler nach Israel überführt wurden. Im Hintergrund hören wir den damaligen IOC-Präsidenten bei seiner Rede während der Trauerfeier für die ermordeten Sportler. In dieser verkündet er seine umstrittene Entscheidung: „The games must go on.“ Für uns endet hier die Reise durch eine sehr gut durchdachte und umgesetzte VR-Welt, die nachdenklich macht, bewegt, und das Gedenken an das Münchner Olympia-Attentat in ein neues Medium bringt.
Weitere Infos zu „München 72 – Social VR Experience“ finden Sie auf der BR-Website.